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Charlie7Betörendschön – so startet das Ballett des Staatstheaters Augsburg in seine neue Spielzeit. Beste Vorzeichen für den Tanz in der Brecht-Metropole – zumal im (vermeintlich krisenhaften) „verflixten siebten Jahr“.Denn seit 2017/18 ist Ricardo Fernando Ballettdirektor und Chefchoreograf des Augsburger Ensembles. Mit einer ganz eigenen Version von „Schwanensee“hatte er zu Beginn seiner Amtszeit seine – damals noch – Ballett Augsburg genannte Kompanievorgestellt. Mittlerweile spielt die personellbestensdisponierte Truppe in der Liga der bayerischen Staatstheater.

Regelmäßig mischt sie auch in Operninszenierungen kräftig und zu deren deutlichem Vorteil mit, und ihre18 Mitglieder können sich der Sympathie sowohl ihres Intendanten André Bücker als auch eines interessant bunten, aufgeschlossen-neugierigen Publikums sicher sein.

Das in Sanierung befindliche Stammhaus hat Fernando bislang allerhöchstens von innen völlig leergeräumt erlebt. Leider bleibt fraglich, ob vor dem nächsten Führungswechsel je eine seiner Produktionen dort beklatscht werden kann. Dafür hat er aber im Verbund mit dem Kollegen-Kollektiv der Techniker und Gewerke längst den Dreh raus, wie sich die Bühne der Ausweichspielstätte im Martini-Park trotz ihrer schwierigen Raumbedingungen sinnlich effektvoll und themengerecht ausstatten lässt. Am Ende seiner hinreißenden Hommage an den genialen Künstler Charles Chaplin, der viel mehr als bloß ein Slapstick-Erfinder war, wird sie gar geflutet – nicht mit Wasser, sondern mittels zweieinhalbtausend kleiner, mittlerer und fußballgroßer Bälle in gebrochenem Weiß bis Grauschwarz: Farben, die an Chaplins legendäre Stummfilme erinnern.

Vom hineinpreschenden Ensemble werden sie in alle Richtungen versprengt. Einen jedoch hebt Cosmo Sancilioin der Titelrolle auf und balanciert ihn verhalten-nachdenklich auf erhobenen Händen. Im kurz und knapp „Charlie“ betitelten Tanztheaterstück verkörpert er die Premierenbesetzung des jungenChaplin. Und er macht dies so leichtfüßig, mimisch und gestisch dermaßen vorbildgetreu, dass man die unsterbliche Figur des Tramp leibhaftig herumtänzeln vermeint. Sancilios Spiel mit dem Ball ist allerdings eine choreografisch wohl bewusst eher reduzierte Variation auf Chaplins berühmte Nummer mit dem riesigen, federleichten Weltkugelballon aus„Der große Diktator“. Die humanistisch bewegende und pazifistische Schlussrede dieses Films erklingt im Originalto nmit Chaplins Stimme aus dem Off wie im Jahr 1940. Da – und glücklicherweise nur hier –gleicht Ricardo Fernando seiner Würzburger Kollegin Dominique Dumais.

Deren nicht minder sehenswerte und zum Glück in toto völlig anders abstrahierte abendfüllende Kreation „Chaplin!“ für das Mainfranken Theater– uraufgeführt im April 2023 – steht auch diese Saison wieder auf dem Programm. Ebenso ist der momentan opulenteste Chaplin-Abend „Smile“, den Ben Van Cauwenbergh und Armen Hakobyans am Aalto-Theater – gleichfalls im vergangenen April – herausgebracht haben, wieder in Essen zu sehen. Es bieten sich diese Saison also gleich drei lohnenswerte Gelegenheiten, sich davon zu überzeugen, auf wie mannigfaltige und jeweils individuelle Art und Weise heutige Choreografen sich des Lebens undWirkens der ersten Hollywood-Kinolegende annehmen. Stets im Widerschein ihrer eigenen Faszination für den Menschen und Weltstar, den Schauspieler, Regisseur, Drehbuchautor, Schnittmeister, Komponisten, Filmproduzenten, Komiker und sympathisch-tollpatschigen Tramp-Performer Charlie Chaplin.

Während man in Essen noch am ehesten eine historische Realitätsnähe gesucht zu haben scheint, ist die in ihren Mitteln wesentlich reduziertere, dabei in ihrer Bewegungsumtriebigkeit höchst erfinderische Würzburger Produktion wohl der breiten und wenig tiefen Bühne der dortigen Ausweichspielstätte Blaue Fabrik geschuldet. Die konsequente Vervielfachung und Auffächerung des titelgebenden Protagonisten zur Gruppe auf einem Podium in zwei Ebenen muss man Dumais als überaus cleveren Coup anrechnen. Dank diesem tragen zwölf Interpreten den Zuschauer ohne jeden Hänger durch 14 Szenen.Dabei werden gleichermaßen biografische Stationen Chaplins gestreift und in einfallsreich-schnörkellosen Nummern nach und nach die tänzerischen Qualitäten jedes einzelnen Darstellers – oft noch zusätzlich herausgefordert durch ein markantes Requisit (Hut, Stock, Schuh, Frack, Ballon) – herausgestellt.

Charlie5Ricardo Fernando hat seinen Zugang gewissermaßen irgendwo dazwischen gefunden. Auf eine Pause wird in seinem 80-minütigen, inhaltlich stimmigen Bilderbogen verzichtet. Absolut richtig, denn so erlebt man„Charlie“ als temporeiches Tanzstück aus einem Guss. Es gibt Anklänge an das Genre der Revue. Doch das, was Fernandos Crew immer wieder in Reih' und Glied oder in ausgefeilten Formationen – geometrisch einmal mit Spazierstöcken, die im heruntergedimmten Schummer neonröhrenhell leuchten – darbietet, lässt sich auch als Scherben eines Spiegels bzw. Erinnerungsfetzen deuten. Szene für Szene zusammengefügt und mit gut zu entschlüsselnden Zitaten neuverbunden, ergibt sich daraus ein wunderbar lose geknüpftes Handlungsballett.

Fernandos Ausgangspunkt ist ein Traum. Darin kehrt der ergraute Charlie Chaplin, dem die USA 1952 die Wiedereinreise verweigerten, noch einmal in eines der Filmstudios von Hollywood zurück. Er führt wieder Regie und lässt berühmte Persönlichkeiten oder Momente aus seinen Filmen auferstehen – beispielsweise die zarte Ballerina (Kako Kijima auf Spitzenschuhen) aus „Rampenlicht“ und eine Verfolgungsjagd mit düpiertem Polizisten à la „Der Zirkus“.An diesem magischen Ort – rund um eine mobile Holzwand mit Treppe – begegnet der alte Chaplin (Nikolaos Doede) seinem jüngeren Ich alias seiner Kunstfigur, dem Tramp. Plötzlich sitzt das blinde Blumenmädchen (Martina Piacentino) aus „Lichter der Großstadt“ auf einer hölzernen Bank. Der alte Filmemacher-Chaplin schubst seinen jungen Tramp zu ihr hin. Aus dem schüchternen Paar wird schnell ein Trio. Die Story, ihre Figuren und ihr Erfinder verschmelzen bei Fernando immer mal wieder zu einem hübschen, klassisch fundierten Stück Tanz.

Mehrfach rennen sich die beiden Chaplin-Interpreten Hand in Hand in einen Zustand hochjauchzenden Glücks – in einen das Publikum schier mitreißenden Gefühlsrausch, der danach genauso schnell ins Gegenteil kippt wie man das von Chaplin als Darsteller und seinen Geschichten so gut kennt. Entsprechend konsequent sticht als Gipfel an Komik im Verlauf des Abends eine Szene ganz besonders heraus:der Boxkampf, mit dem der Choreograf an eine Filmsequenz aus „Lichter der Großstadt“ erinnert. Cosmo Sancilio als wendiger Chaplin, Alfonso Pereira in der Rolle des Boxers und als Schiedsrichter dazwischen der Tänzer David Nigro, dem Fernando darüber hinaus das gelungene Sounddesign seiner Produktion anvertraut hat, sind zum Totlachen witzig.

Charlie2Einem Alptraum gleich wurden dagegen Chaplins Ängste angesichts des sich mehr und mehr durchsetzenden Tonfilms inszeniert. Die Bedrohung zeigt sich in Form einer fahrbaren Wand übereinander gestapelter Bildschirmkästen. Dazu erscheint eine maskulin auftretende Frau mit Hut und teuflisch roten Strümpfen (Gabriela Finardi).Im Programmheft wird sie als„Managerin“bezeichnet, die Chaplin bedrängt. Von Mutlosigkeit und Zweifeln geplagt geht der Künstler zu Boden. Sein jüngeres Alter Ego bezwingt aber –ganz im Stil des unverbesserlichen Tramps–die Furcht und findet nach einer Kletterpartie über einen überdimensional großen Regiestuhl, der sich auf Chaplins Flucht vor einer Horde düsterer maskierter Dämonen in ein Kamerastativ verwandelt,zu seinem unverbesserlichen Lächeln zurück.

In seinem Eröffnungssolo tanzt Nikolaos Doede durch die Weite eines leeren Raums. Die Seitenwerden durch Scheinwerfer auf hohen Stangenfüßen flankiert. Vor der Rückwand befindet sich ein Bühnenportalrahmen mit silbergrauem Vorhang. Verborgen dahinter, wird dem Publikum suggeriert, dreht sich die Welt von Chaplins glamouröser Vergangenheit weiter. Ab und zu treten einige ihrer Bewohner durch den Vorhang und finden sich im Kosmos ihrer erträumten Entstehung wieder. So motiviert Fernando den Auftritt des jungen Chaplin im Kostüm des Tramps. Gemeinsam auf einem Sofa zusammengedrängt taucht aus der rückwärtigen Tiefe zudem Chaplins Familie auf.

Charlie4Die knallbunten Kostüme der Mutter (Terra Kell), der drei Mädchen (Ria Girard, Chiara Zincone, Martina Maria Gheza) und zwei Jungs (Gonalo Martins da Silva, Vito Damiano Volpicella) brechen mit der ansonsten vornehmlich schwarz-weiß gehaltenen Anmutung des Stücks. Sie symbolisieren den kurzen Exkurs in Chaplins Privatheit. Doch „Charlie“ verharrt nicht lange beim Bild des Familienvaters. Das vollbesetzte Möbel verschwindet wieder unauffällig im Hintergrund und Fernandos Charlies hängen in einem Duett wieder ihren Gedanken und nunmehr auseinander klaffenden Emotionen nach. Von Traurigkeit geleitet tritt der Darsteller des alten Chaplin zu Wagners„Lohengrin“-Vorspiel durch den Vorhang nach hinten ab. Zurück bleibt der junge. Um ihn herum erobern Paare mit wendigen Hebungen den Raum.

Charlie6Nacheinander streifen alle Tänzerinnen und Tänzer ihre zweite, ihnen vom Ausstatter Pascal Seibicke genial angepasste, durchsichtige und an der Hüfte typisch für die Figur des Tramp ausgebeulte Kostümhaut ab. Cosmo Sancilio – Fernandos toller, von der Maske perfekt auf Chaplins junges Ebenbild getrimmter Tänzer – spielt versonnen mit einem der am Boden verstreuten Bälle. Der Traum, den Fernando Chaplin in seinem Ballett angedichtet hat, ist vorbei. Man schluckt ergriffen, denn tatsächlich ist hier etwas Erstaunliches gelungen: die Idee dessen zu visualisieren, was Chaplin uns hinterlassen hat und was ihn bis heute ausmacht.
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Niemand, der Chaplin auf die Bühne bringt, mag an dessen Filmmusik oder dem watschelnden Charme und der ambivalenten Strahlkraft seines heruntergekommen Tramp vorbeikommen. In Augsburg wird der tänzerische Reigen letztlich durch eine leise vor sich hinsummende Spieldose beendet. Die Gestalt des Tramps dreht sich obenauf. Kitsch?Vielleicht – aber auch einvoller künstlerischer Treffer ins Schwarze!

Ballett des Staatstheaters Augsburg: „Charlie“. Premiere am 30. September 2023 im Martini-Park, Weitere Vorstellungen am 11., 26. November, 1., 9., 30. Dezember, 19., 25. Jänner, 17. Februar