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Bovary53Neubeginn beim Staatsballett Berlin: Christian Spuck eröffnet seine erste Saison an der Spree mit einer Uraufführung nach Flauberts „Madame Bovary“. Sein „Tanzstück“, ein modernes Handlungsballett in zwei Teilen und sieben Szenen, zeigt in zweieinhalb Stunden, weshalb Flauberts Antiheldin und der Tanz einander wenig zu geben haben. Künstlerisch ist die aufwändige, vom Premierenpublikum gefeierte Produktion ein Beispiel für Spucks Meisterschaft, seinen Choreographie- und Inszenierungsstil aller Repetition und Baukastenteile zum Trotz immer wieder frisch erscheinen zu lassen.

Dass kaum drei Wochen nach der Berliner „Bovary“ auch Helen Pickett beim National Ballet of Canada ein „Bovary“-Ballett vorstellen wird (das der Ankündigung zufolge, anders als Spuck in Berlin, auf „Handlung“ zu verzichten scheint), vermittelt einen irreführenden Eindruck: Flauberts Erzählungen und der Tanz haben noch selten zusammengefunden. Die berühmte Ausnahme, die Alexander Gorskys kurzlebiges, für seine ballettreformerischen Bestrebungen dennoch bedeutendes Moskauer „Salammbô“-Ballett von 1910 darstellt, bestätigt das ebenso wie die Figur der Emma Bovary, der ein Eigenleben auf der Tanzbühne bislang verwehrt blieb.

Zürcher Kreation mit Berliner Qualitäten

Mit dem neuen Intendanten des Staatsballetts Berlin verbinden sich allseits hohe Hoffnungen – in der Kompanie, bei Politik und Publikum -, und Christian Spuck setzt offenbar darauf, mit seinen in Zürich entwickelten Konzepten auch in Berlin erfolgreich zu werden. Das „Bovary“-Team hat Spuck aus der Schweiz mitgebracht: Voran Claus Spahn für die Dramaturgie, Rufus Didwiszus (Bühne) und Emma Ryott (Kostüme) für die Ausstattung. Es hat ihm bis hin zur zeiten-, stil- und genreübergreifenden Musikauswahl (von - unter anderen – Saint-Saëns und Pärt, von Ives und Ligeti) einen Rahmen für „Bovary“ geschaffen, der zwar auf das neue Werk zugeschnitten ist, es aber auch bis ins Detail in die Reihe der Zürcher Spuck-Inszenierungen einordnet: Seine Berliner „Bovary“ ist quasi Spucks letzte Zürcher Kreation.Bovary2

Dennoch hat sie „Berliner“ Qualitäten. Spuck beteiligt an „Bovary“ fast das gesamte, große Ensemble. Er zeigt damit, dass er als Direktor um die Bedürfnisse der Tänzerinnen und Tänzer weiß, aber auch, dass er als Choreograph über die Zürcher Dimensionen seiner Arbeit hinauswachsen will und kann, zumal in Sachen Handlungsballett. Darüber hinaus gestaltet er seine „Bovary“ so, dass sie niemanden verschreckt, sondern vielen etwas bringt. Vielleicht nur so sind die traditionell angelegten, attraktiv choreographierten und sorgfältig unterschiedlich temperierten Duette zu erklären, die Spuck für Emma Bovary und ihre Liebhaber geschaffen hat – und die für Weronika Frodyma, Alexandre Cagnat (Léon) und vor allem für das Paar Frodyma und David Soares (Rodolphe) an der Spitze eines tipptopp tanzenden Ensembles einen beachtlichen Premierenerfolg brachten.

So edel und elegant, so geschickt zeitgeistig parfümiert und kunsthandwerklich sauber gearbeitet die Produktion ist, wird sie dem Choreographen manch einen Übernahmeantrag anderer Bühnen bescheren. Und doch: Auch Spuck vermag Emma Bovary nicht für den Tanz zu gewinnen.

Bovary5(K)Eine Bovary für heute

Christian Spuck interessiert an Emma Bovary deren Erwartung, gleich den Heldinnen der trivialen Romane, die sie liest, ein illustres, von rauschhaftem Liebesglück und endloser Leidenschaft, von unablässiger Ablenkung und dauerndem Abenteuer geprägtes Leben zu führen, ein Leben, wie sie es in ihrer Selbstsicht nachgerade „verdient“ zu haben meint. Dafür kauft sie, was sie sich nicht leisten kann, verkauft dafür sich selbst und opfert andere – und dieser Aspekt der Figur, so Spuck in einem Interview zu seiner Einstandsarbeit in Berlin, sei den Selbstbildern und Selbstinszenierungen der Instagram-Generation verwandt. Gut beobachtet, denkt man, begegnen uns die Opfer dieser zum Ideal gewordenen Lebenslüge sogenannter sozialer Netzwerke doch allüberall. Ein Aspekt also mit dem Potential, ein „Bovary“-Ballett schnurstracks ins Heute zu hieven. Doch Spuck deutet ihn in seinem Werk nur in höchst homöopathischer Dosierung an: in zwei, drei auf der Bühne gefilmten und auf den Rückprospekt übertragenen Nahaufnahmen der Emma-Darstellerin. Gesellschaftskritik, Kritik gar am (potentiellen) Publikum ist Spucks und seiner Inszenierung Sache nicht.

Christian Spuck erzählt Emma Bovarys Geschichte in einem Kontext ohne Zeit- und soziale Koordinaten. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen skizziert er nur mit vagem Strich (und entwertet sie zugleich durch eine Ausstattung und insbesondere durch Kostüme, die das Gestern mit dem Heute und beides mit dem Wann-auch-immer mischen), ebenso wie die soziale Stellung seiner Titelfigur als Frau in einer bestimmten Zeit, einem bestimmten Umfeld. Und er unterschlägt – völlig – die Liebesunfähigkeit und brutale charakterliche Selbstbezogenheit der Roman-Emma, die sich bei Flaubert in der emotionalen Misshandlung der Tochter und in der Ruhmessucht zeigt, mit der Emma ihren Landarzt-Gatten zu einer (tragisch misslingenden) Operation verleitet, die er nicht beherrscht.Bovary12

Nur innere Konflikte

Spuck, Sophie Barthes‘ „Madame Bovary“-Film von 2014 ähnlich, erklärt Emmas fatale Neigung zum Unzufrieden- und Unglücklichsein allein mit ihrem naiven, „romantisch“ verblendeten Drang zu verzehrenden Liebesstürmen und luxuriösem Lebensstil. So sind die Konflikte seiner „Bovary“, an deren Ende Emmas Suizid stehen wird, nur innere Konflikte. Allein Emmas Innenleben ruft bei Spuck die äußeren Wirkungen hervor – die zerstörerische Rebellion Emmas gegen Mann, Ehe und Lebensumstände, die schroffe Weigerung ihrer Ex-Liebhaber, sie aus finanzieller Not zu retten, Emmas gesellschaftlicher und persönlicher Ruin – nicht „umgekehrt“, wie es für die Mechanik einer Erzählung auf der Tanzbühne von Vorteil wäre.

Bovary79Innere Konflikte darzustellen – natürlich vermag das Tanz. Nicht aber jede Choreographie. Myriaden von Programmhefttexten, die mehr zu erzählen wissen als die Aufführung, die sie begleiten, zeugen davon. Spuck kaschiert die begrenzte Mitteilungsfähigkeit seiner choreographischen Sprache indes handwerklich virtuos – in „Bovary“ insbesondere durch aus dem Off ertönende Zitate aus Flauberts Roman. In Elisabeth Edls Übertragung ins Deutsche malt Flaubert dem Zuschauer kühle und zugleich hochpoetische Bilder in den Kopf, die Spuck (gut so!) gar nicht erst nachzuzeichnen trachtet. Zugleich aber erläutern Flauberts Worte das Geschehen auf der Bühne, die Ereignisse der Handlung, das Denken und Fühlen Emmas - was (und gar nicht gut so!) den Tanz zum Erfüllungsgehilfen des Textes degradiert. Das ist zu wenig für ein (gutes) Ballett und nicht genug für ein „Tanzstück“: Man meint, sprechenden Tanz zu sehen und müsste doch vielmehr die Ohren verschließen, um beurteilen zu können, ob und was Spucks Choreographie erzählt.

Getanztes Fernsehspiel


Der Kniff mit den Texten funktioniert perfekt – im Saal in Berlin so sehr wie (und dort gar in geradezu erschreckend selbstverständlicher Weise) auf dem Bildschirm: Arte übertrug die Uraufführung „live“ und stellt sie drei Monate lang in seiner Mediathek zur Verfügung.Bovary6

In der Deutschen Oper Berlin ist Tanz mit gesprochener Seh-Anleitung zu erleben (und wird das Publikum dank der auf das Bühnenportal projizierten Texte in englischer Übertragung Zeuge des womöglich ersten Balletts der Tanzgeschichte mit Übertiteln). Am Bildschirm wird daraus ein als solches durchaus beeindruckendes, getanztes Fernsehspiel. Doch wer der Chance teilhaftig wird, die „echte“ und die gefilmte Aufführung vergleichen zu können, erhält auch eine erkenntnisreiche Lektion über den selektiven Blick einer Kamera und – apropos „Instagram-Generation“ – wie sie mit ihren Totalen und Nahaufnahmen, ihren Schnitten, Gegenschnitten, Ausschnitten und Schwenks den Blick des Zuschauers zu lenken, besser: zu korrumpieren vermag.

Aus dem Bau- und Werkzeugkasten

Christian Spuck beherrscht sein Handwerk mit schlafwandlerischer Sicherheit – freilich, um im Bild zu bleiben, in Räumen, die er schon oft sehenden Auges ausgeschritten hat, und mit Versatzstücken aus seinem (überschaubaren) Bau- und Werkzeugkasten, die er für „Bovary“ mit Sorgfalt wählt, hervorholt und mit Gespür für sein aktuelles Thema einsetzt. Die nobel-zeitlose, grau-schwarze Bühne ist für „Bovary“ entstanden - und doch Spuck-typisch. Die schönen, grau-schwarz grundierten, farblich edel akzentuierten Kostüme, die jedem Hochglanzmodejournal für die gehobenen Stände zur Ehre gereichten, sind frisch gefertigt - und doch auch die soundsovielte Neuauflage des stets sich Gleichenden. Ebenso verhält es sich mit Choreographie und Inszenierung.

Bovary21Auf Stühlen stehende Klagefiguren in Schwarz (die hier schon zu Beginn auf das dunkle Ende des Stücks verweisen): War es in Spucks Zürcher „Monteverdi“, wo man ähnliches sah? Begegneten uns die klobigen Schnürschuhe, die in „Bovary“ das Landvolk der „Menschen von Yonville“ trägt, nicht schon in Spucks (unterhaltsam modernisiertem) „Dornröschen“ – und bewegten sich die Tänzerinnen und Tänzer dort nicht gerade so wie hier? Ist die Gruppe in schwarze Ganzkörpertrikots gekleideter Figuren, eckig, grotesk und unheilschwanger gestikulierend, nicht aus Spucks „Winterreise“ zur „Bovary“ mitgereist, wo sie nun zunächst einzeln die Dorfhonoratioren darstellt – Warenhändler und Geldverleiher, Apotheker, Notar, Bürgermeister und Gerichtsvollzieher – um dann, als Gruppe, mit dem Würgegriff ihrer Forderungen Emmas wachsende Verzweiflung zu füttern?

Spitzen-Klischees und moderne Brüche


Wie in „Dornröschen“ setzt Christian Spuck in „Bovary“, die meist auf flacher Sohle tanzt, den Tanz auf Spitze zutiefst klischeehaft ein: Wenn auf Schloss Vaubyessard die Ballgesellschaft tanzt, der Kontext also „adlig“ wird. Und wenn Emma sich ihren ersten Liebhaber genommen hat und sich der Illusion hingibt, endlich in dem Leben angekommen zu sein, von dem sie träumt.Bovary67

Spucks auf Spitze gestellte Ensembles sind (einmal mehr) so schlicht und konventionell wie die zwei separaten „modernen“ Gruppen, die er Emma als Inkarnationen ihrer Sehnsüchte und Ängste an die Seite stellt, choreographisch kurzatmig sind. Deren Bewegungen basieren (einmal mehr bei Spuck) auf „gebrochenen“, oft aus der Lotrechten kippenden klassischen Übungen und laufen (einmal mehr) permanent auf Herren-Damen-Paarungen hinaus, in denen die Herren die Damen halten und heben, und die Damen, sobald sie in die Nähe ihres Herrn geraten und der die Hände in Richtung ihrer Taille bewegt (was unablässig der Fall ist), in von „ihm“ gestützter Position sogleich das Spielbein halb oder, noch öfter, gleich ganz dem Schnürboden entgegenwerfen, um dann wahlweise in einer gehaltenen Arabesque-Position zu enden oder über „seine“ Hüfte abgerollt zu werden – und um bald darauf das mehr oder weniger selbe noch einmal zu tun.

All das präsentiert Spuck in einer Nummerndramaturgie - wechselnde Gruppen gehen zu ihrer Position auf der Bühne, um erst bei Einsatz „ihrer“ Musik zu tanzen zu beginnen –, die unter der Oberfläche ihrer „heutigen“ Anmutung bemerkenswert altmodisch strukturiert ist. Einmal mehr bei Christian Spuck.

Ein neues Ballett also für Berlin, aber nichts tatsächlich Neues von Berlins neuem Ballettdirektor. Statt dessen, zumindest vorerst, die Fortführung anderswo entwickelter Rezepte. Dennoch, immerhin: Ein, für Berlin, solider Anfang.

Staatsballett Berlin: „Bovary“ von Christian Spuck. Uraufführung am 20. Oktober 2023, Deutsche Oper Berlin. Musikalische Leitung: Jonathan Stockhammer, Klavier: Adrian Oetiker. Vorstellungen bis 31. Oktober 2023 sowie im Januar 2024.

 

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