Im 17. Jahr ihres Bestehens zeigte die Kompanie Liquid Loft des Wiener Choreografen Chris Haring die Uraufführung ihrer neuesten Kreation „Modern Chimeras“ bei ImPulsTanz. Liquid Loft bleiben sich treu. Ihre künstlerischen Stilmittel, die ganz eigene Bild-Ästhetik und Sprach- und Stimmspiele sind unverkennbar. Auf den Einsatz von Life-Kameras verzichtete Chris Haring jedoch. Und das ist nicht das einzig Neue.
Die seit vielen Jahren in variierenden Settings, mal als Gruppenstück auf der Bühne, als Film, Online-Format oder in getrennten, durchschlenderbaren Museumsräumen gehörig ausgeweidete Thematik der deformierten, vereinsamten, entfremdet-posthumanen Kreatur bearbeitete Chris Haring in einer Vielzahl von Stücken, selbst in seinem „Schwanensee“ mit TANZLIN.Z am Landestheater Linz (tanz.at berichtete) in diesem Frühjahr. Die TänzerInnen der Kompanie entwickelten gemeinsam mit ihrem Choreografen und dem Sounddesigner Andreas Berger, wie Cumming Gründungsmitglied, Bewegungs- und performatives Material, das mit viel Witz und durch live projizierte Nah- und Innen-Aufnahmen der Körper die kühle Ästhetik der Choreografien durchbrach.
„Modern Chimeras“ nun, durch Covid-Fälle in der Kompanie war die Premiere gefährdet (Anna Maria Nowak ganz frisch genesen und Hannah Timbrell soeben positiv getestet und daher ausgefallen) musste bis zum letzten Moment angepasst werden an die aktuelle Besetzungs-Situation. Im Ergebnis für Außensitzende nicht wahrnehmbar, aber zusätzlicher Vorpremieren-Stress für die Kompanie.
Die sechs TänzerInnen (Luke Baio, Stephanie Cumming, Dong Uk Kim, Katharina Meves, Dante Murillo, Anna Maria Nowak) tragen den Haufen Stoff in der Mitte der weißen, säulengerahmten Bühne ab, ziehen sich um. Es bleiben zwei riesige Kissen, silbern und golden, und etwas wie ein schwarzer Torso mit einem langen Rüssel und gold-glitzerndem Appendix. Lauter, drängender Metall-Sound. Von der ersten Sekunde an. Die eingespielte Stimme lippensynchron mitgesprochen, Posen wie auf alt-ägyptischen Malereien und in griechischen Skulpturen gesehen, synchrone Bewegung auf die Pose zu, unterbrochen von kurzen Pausen. Ständiger Kostüm-Wechsel. Raubkatzen schleichen im Staccato-Move über die Bühne.
Die Chimäre, das von der griechischen Mythologie geborene Mischwesen, ist ebenso auch Trugbild und Einbildung. Sie hat also physischen und geistigen Charakter, ist Wirklichkeit und falsche Vorstellung von dieser. Passiv erlegen oder aktiv erzeugt, (Be-) Trug und erSCHEINung schaffen heute neue, mächtige Mythen, die als solche zu entlarven vielfach nicht gelingt, weil die Verhaftung in der Innen-Ansicht Fremdbild nicht erlaubt. Und die Gewalt, mit der die inneren Trugbilder uns gefangenhalten, wird nur in der Angst vor ihrer Zerstörung spürbar. Zudem halten Krawatten, Soutanen, Turban, Kaftan oder Waffen tragende Doppel-Moralisten heute unsere Welt in atemlosem Lügen-Trab. Aktueller also, und fundamentaler, kann ein Sujet kaum sein.
Hier setzt Haring an mit seinen modernen Chimären. Deren Varianten-Reichtum choreografiert er im neoklassizistischen Ambiente des Odeon in berückenden Bildern. Der Lichtdesigner und Szenograf Thomas Jelinek schafft dafür Räume und Atmosphären, die kongenial die Dynamik der Performance unterstützen. So wie der Sound von Andreas Berger. Seine Klang-Welten und Sprach-Stimm-Installationen sind maßgeblich für das ästhetische Gesamtbild der Arbeit.
Die Choreografie orientiert sich an Bewährtem, Altbekanntem, gibt neuen Bildern jedoch neuen Raum. Die Kostüme von Stefan Röhrle, er entwickelte neben vielfältiger Individual-Kleidung eine Reihe von äußerst dehnbaren Stoffen, die das Umschließen von bis zu sechs PerformerInnen erlauben. Deren leichte Transparenz ist auch Hinweis auf die Möglichkeit des Erkennens und Entlarvens all dieses Scheins.
Das häufige Wechseln der (Ver-) Kleidungen, die Posen und Skulpturen-Gruppen, in die Hüllen und Häute der Anderen gekrochen, gezwängt oder von diesen eingefangen und -gewickelt, der amöbenhafte Wandel der Formen, die sich hier ausstülpen und dort einengen, viele, im großen Raum verteilte parallele Einzel- und Gruppen-, solistische und synchronisierte Aktionen, tänzerische und performative Sequenzen erzeugen ein hochkomplexes, dichtes Stück voller eigenwillig-schöner Bilder. Tierisch-menschliche Figuren, animalisch-humaner Habitus und manchmal einfach nur der Typ von nebenan, der ganz kurz einmal erkennbar zu sein scheint, tanzen zwischen Abstraktion und Fiktion. Den Zuschauenden lockt Haring mit Intimität und hält ihn weiter auf Distanz, auch weil Video-Leinwand gänzlich und der in seinen Stücken oft so köstliche Humor weitgehend fehlen.
Mischwesen und Trugbilder zu allen Zeiten und auf allen Kontinenten, in allen Lebensformen und vielen Dimensionen zeigt uns Liquid Loft, großartig geschlossen agierend, in „Modern Chimeras“. Die Wandlung als Daseinsform, als Wesenskern des Lebens. Die universelle gegenseitige Durchdringung (wir alle sind psycho-genetische Chimären) lässt Neues entstehen, ermöglicht Evolution.
Das Stück feiert das widerstandslose Sich-Hingeben an die ständige Veränderung. Ein Duett zweier Stretch-verhüllter Tänzer – die Gesichter drücken sich aus dem Textil und, während sie sich winden, lamentieren ihre Stimmen lautmalerisch rau – überwindet die Distanz-Barriere und schleicht sich ein in das Gefühl. Es gibt keine Grenzen. Wir sind Alles, Eines.
Liquid Loft / Chris Haring mit „Modern Chimeras“ am 29. Juli 2022 im Wiener Odeon im Rahmen von ImPulsTanz.