Das Ballett „Schwanensee“ zählt in seiner 1895 am St. Petersburger Mariinsky-Theater uraufgeführten Choreografie von Marius Petipa und Lew Iwanow zu den bedeutendsten Vertretern des klassischen Handlungsballettes. Der mit seiner Kompanie „Liquid Loft“ weltweit tourende und bereits mehrfach international als Gast-Choreograf gebuchte Österreicher Chris Haring hebt es in seiner am Landestheater Linz erstaufgeführten Version aus der Tradition in die (Post-)Moderne.
Die Musik von Peter Illjitsch Tschaikowsky, nach dessen Tod von seinem Bruder Modest überarbeitet und in die heute bekannte Fassung gebracht, gibt in einer für diese Arbeit leicht gekürzten Fassung die klassische Basis. Die Geschichte des Prinzen Siegfried, der sich in die verzauberte Schwanenprinzessin Odette veliebt und von deren Ebenbild Odile, die vorgibt, Odette zu sein, getäuscht wird, wenigstens im Groben wohl jedem bekannt bis vertraut, lässt Haring das Orchester erzählen. Die Musik, beredt in ihrer emotionalen Expressivität, mit dem Tanz zu kommentieren oder gar zu dekorieren, hat Haring abgelehnt.
Identität ist das Ergebnis von Erziehung und Sozialisation. Sie ist das Produkt von Einengungen, Beschneidungen, Normierungen und Ideologisierungen. Selbstachtung und Selbstliebe bleiben als aus des Unbewussten dunklen Tiefen dumpf sich rührende Bedürfnisse zurück. Die Kompensation solcher oft massiven Defizite wird üblicher Weise dem Außen aufgetragen. Die Liebe in ihren symbiotischen Formen ist wegen ihrer starken Belastungen durch innere Not-Wendigkeiten besonders anfällig für Selbst- und Fremd-Täuschungen. Hinzu kommt die Faszination des Bösen, des ins Außen projizierten Selbstbildes. Und hier setzt Chris Haring mit seinem „Schwanensee“ an.
Die Täuschung, in Schwanensee verkörpert durch Odile, wird zur allgemeingültigen, einer, die das Selbst, den Anderen und das Sein der Welt und in der Welt bestimmt. Die Liebe verkommt zum Postulieren und Kultivieren von Trugbildern und zum verzweifelten Versuch, der Ent-Täuschung, die der Selbst- und Fremdtäuschung zwangsläufig folgen muss, und dem Leiden daran zu entrinnen.
Dem romantischen Narrativ der Musik stellt Chris Haring auf der Bühne ätherische Bilder – trotz aller Abstraktion – betörender, fragil-sublimer Schönheit gegenüber, die zu genießen und bis ins Innen wirken zu lassen der Choreograf hinlänglich Zeit gibt. In eingefrorenen Bewegungen berichten die TänzerInnen von Zuständen. Aufgestellt zu seelischen Skulpturen-Gärten verharren sie lang in ihren Posen. Eine eigene Metrik entkoppelt den Tanz von der Musik. Handlung gibt es nicht, auch die einzelnen Bewegungssequenzen sind eher improvisatorisch angelegt. Die TänzerInnen geben Befindlichkeiten mit dem Haringschen Bewegungsmaterial einen physischen Ausdruck. Die Dramaturgie jedoch beschreibt einen großen Rahmen, setzt die Szenen-Folge wie vom Kleinen ins Große, vom Innen ins Außen, vom Individuellen ins Gesellschaftliche, vom Besonderen ins Allgemeine.
Die Kostüme von Stefan Röhrle spielen eine entscheidende Rolle in diesem Stück. Einerseits geben sie mit ihren elastischen Stoffen eine äußerst dehnbare zweite Haut, die zum in Harings Arbeiten mehrfach verwendeten physischen Ausdruck von Enge und Deformierung, Gefangensein und Ausbruchswille, Schein-Identität und Selbstdarstellung wird. Andererseits weisen die Farben Rollen zu. Weiß ist die Farbe Odettes, schwarz die Odiles, rot die für Siegfried. Und bunt trägt die Festgesellschaft oder der Adel, graublau das Volk. Diese Farben werden von allen einmal getragen. Nicht nur das rote Kleid (!) von Siegfried, Haring bricht in seinem Schwanensee mit jeglichen Rollen- und Geschlechter-Zuweisungen und überhaupt mit Geschlechtlichkeit, wechselt mehrfach seine(n) TrägerIn. Zum Ende hin erscheint sogar die ganze Kompanie in einer Szene in Rot des getäuschten Siegfried. Weil wir alle jede dieser Rollen kennen.
Die Video-Installation von Michael Loizenbauer, die während der Proben angefertigte Nahaufnahmen der transparent verhüllten TänzerInnen auf der rückwärtigen Leinwand gedimmt und in Zeitlupe zeigt, erzeugt, wenn beispielsweise sich die TänzerInnen wie Schatten auf der dunklen Bühne bewegen, etwas wie ein psychisches Höhlengleichnis.
Licht und Szenografie gestaltete Thomas Jelinek, dem mit feinem Gespür eine Bindung von musikalischer Erzählung und dem Tanz gelingt. Ebenso der elektronische Sound von Andreas Berger. Er schneidet mit einigen dunkel drohenden bis schrilleren Klangsequenzen in die Original-Komposition und schlägt so Brücken vom späten 19. Jahrhundert ins Jetzt und vom Original-Libretto in die Bilderwelt des Chris Haring und seiner Assistentin Stephanie Cumming.
Das Bruckner-Orchester begeistert mit nuanciertem Spiel. Mit sicherer Hand geführt von Marc Reibel, der der Originalmusik zu einer Lebendigkeit verhalf, die mehrfach Zwischenapplaus provozierte. Und die Einigen im Auditorium ermöglichte, sich ob der unerwartet fremdartigen Choreografie ganz auf die Musik zu verlegen und dieser Art den 110-minütigen Abend letztlich doch zu genießen.
Die 13 TänzerInnen der Kompanie TANZ LINZ überzeugen. Das sehr spezifische, aus den Arbeiten Harings bekannte Bewegungsmaterial präsentieren sie mit Präzision und kühler Distanz. Die klassischen Sequenzen, es gibt sie auch, zeugen vom hohen Niveau jedes und jeder Einzelnen. Besonders jenes eine Mal, als, nachdem das Orchester den „Tanz der kleinen Schwäne“, die wohl berühmteste Szene des Ballettes, im zweiten Satz spielte, diese mit dramaturgischem Ritardando danach tatsächlich auf der Bühne erscheinen. Drei Fauen und ein Mann tanzen zu metallischem Sound ohne Rhythmus weitgehend die Original-Choreografie. Großartig! Und vom Publikum äußerst dankbar aufgenommen.
Die Illusion von Perfektion und die, sie je zu erlangen, zerrinnt mit dem Schwanen-Gruppenbild am Ende. Lange stehen sie vornüber gebeugt und strecken die Arme hinten hoch. Aber schöne Schwäne sind sie nicht. Gequält und gedemütigt erscheinen sie, gebrochen und entwürdigt.
Die TänzerInnen, alle wieder im Odette'schen Weiß, schauen sitzend zu, wenn sich der weiße und der schwarze Schwan als riesige Steppdecken-Chimären vom Bühnen-Himmel herabsenken und kurz nur kommunizieren, fast wie in der Balz des Guten mit dem Bösen, um dann gestaltlich zu zerfließen. Um somit vielleicht doch noch einen Weg zu weisen in das heilende „sowohl als auch“.
Tanz Linz: „Schwanensee“ von Chris Haring, Premiere am 23. April 2022 am Landestheater Linz. Weitere Vorstellungen am 29. April, 6., 10., 13., 15., 20. Mai, 2., 20. 28. Juni