Brillant, überbordend, freud- und lustvoll verlief der Abend, mit dem die künstlerische Leiterin Brigitte Fürle ihre neunjährige Tätigkeit am Festspielhaus St. Pölten beendete. Die Kombination von einem partizipativen Projekt – „Le Grand Continental: alles tanzt“ von Silvain Émard – sowie „Beethoven 9“ mit Yaron Lifschitz‘ Circus Circa und dem Tonkünstler-Orchester Niederösterreich unter Yutaka Sado war ein Abschied, der Fürles erfolgreichen Programmierung einen unvergesslichen Höhepunkt hinzufügte.
Brigitte Fürle verabschiedete sich mit Stil. Natürlich ging es an diesem Saisonabschlussfest um sie, doch dabei stand eindeutig die Kunst im Mittelpunkt, in den sich das Adieu wunderbar einfügte und jene vielen Momente evozierte, mit denen Fürle immer wieder zu beglücken wusste. Unter ihrer Ägide wurde das Haus endgültig mit Leben gefüllt, wurde zu einem vibrierenden Ort, konnten Künstler*innen aus der ganzen Welt in ausverkauften Rängen das dankbare und begeisterungsfähige St. Pöltner Publikum erleben.
Freilich, die Pandemie hat auch hier die Besucherzahlen ausgedünnt, doch allein die Beispiele in dieser Saison sprechen für die abwechslungsreiche und spannende Tanzprogrammierung, etwa mit Pina Bausch‘ „Frühlingsopfer“ mit afrikanischen Tänzer*innen, José Montalvos „Gloria“ oder Akram Khans eindrucksvoller Deutung vom „Dschungelbuch“. Jüngstes Beispiel war am 21. Mai die Produktion des südafrikanischen Choreografen Gregory Maqoma, der mit „Broken Chord“ eine (wahre) Geschichte der Kolonialzeit in einer Union von Musik und Tanz erzählte und daraus eine Tanzoper kreierte, in der Tänzer*innen und Sänger*innen mühelos von einer Rolle in die andere schlüpfte.
Eine andere, aber nicht weniger innige Verbindung der beiden Schwesterkünsten bestimmte auch Fürles letzte Präsentation im Festspielhaus.
Auf dem Vorplatz konnte man sie tanzend erspähen inmitten einer Hundertschaft von Tänzer*innen, die in den letzten Wochen die Choreografie „Le Grand Continental: alle tanzen“ von Sylvain Émard einstudiert haben. Nachdem die Pandemie 2021 das gemeinsame Proben verhindert hatte, kam das partizipative Projekt nun mit einem Jahr Verspätung zur Aufführung. Émard kombiniert einfache, aber sehr effektive Tanzmoves zu Musik, die auch bei den Zuschauer*innen gleich in die Beine fährt und ordnet die Gruppe immer wieder neu, vor allem aber erweckt er in allen die sichtbare Freude am Tanzen und macht sie so zu ausdrucksstarken Performer*innen. Solche Projekte bekräftigen hervorragend die laufende Arbeit im Rahmen des Outreach-Programms (wie den "Ateliers für Alle"), sie kreieren Enthusiasmus und animieren im besten Fall für die aktive Teilnahme. Jedenfalls sollten solche Highlights mit innovativen künstlerischen Ansätzen der Community-Arbeit weitaus öfter umgesetzt werden.
Mit seinem Zugang zu Beethovens Neunter Symphonie brachte Regisseur Yaron Lifschitz und seine Akrobat*innen das Publikum zum Staunen und Zittern. Auf einem schmalen Streifen vor dem Orchester fliegen sie mit Saltos über die Bühne, türmen sich auf, fallen in die Arme der Anderen, machen mit ihren Stunts atemlos. Doch hier geht es nicht um eine sensationelle Leistungsschau, die zweifellos auch stattfindet, sondern die Verkörperung von Beethovens gewaltiger Musik, die durch das visuelle Element noch verstärkt wird. Action ja, aber vor allem Poesie vermitteln die elf großartigen Künstler*innen anhand ihrer Fertigkeiten, mit denen sie sich immer auch am Rande des Scheiterns bewegen.
Mit seiner Choreografie spiegelt Lifschitz Beethovens kreative Arbeit, die ebenso risikofreudig die Grenzen der Harmonie austestet und die Verbindung von Orchester, Chor und Sänger*innen in eine bislang ungeahnte musikalische Vollendung geführt hat.
Wenn am Ende die Chormitglieder des Wiener Singvereins (Leitung: Johannes Prinz) im Alltagsgewand die Bühne betreten und uns „Freude! Freude!“ entgegenschmettern, wird die Welt zu einem Ort, in dem Schillers idealistische und ekstatische Vorstellung von Friede und Brüderlichkeit so nah erscheint. Sie findet sich in der Kunst der Akrobatik ganz natürlich wieder. Die Akrobat*innen unterstützen einander auf ihrem Weg in lichte Höhen und sind stets bereit, einander aufzufangen. Sie bilden das Sicherheitsnetz, das der Einzelne und die Gesellschaft brauchen um möglichst unbeschadet durchs Leben zu gehen. Dieser Weg wie die Akrobatik ist nicht eben und geglättet, denn die Körperarrangements sind wackelig und bestehen nur im ständigen Austarieren von Spannungen und Gegenspannungen. Gleichzeitig reagiere die Künstler*innen freudvoll auf die Herausforderungen, auf die ständige Überwindung ihrer Grenzen.
In den Soli weicht das atemberaubende Tempo der Gruppe einer verinnerlichten Konzentration, werden Geräte wie Seil, Trapez oder Ring zum Partner. Das ist gleichermaßen erotisch, poetisch und zutiefst berührend.
Brigitte Fürle hat in einer Zeit, in der in Europa ein sinnloser und zerstörerischer Agressionskrieg tobt, die Kunst sprechen lassen, die Hoffnung, Empathie und Trost bietet. Mit Dankbarkeit wird ihr Publikum darauf zurückblicken.
Am 10. und 11. Juni 2022 vor und im Festspielhaus St. Pölten