Zwei sehr unterschiedliche Produktionen der Freien Szene München waren im November im Schwere Reiter zu sehen. Hype pur – live und digital verlinkt: Die Uraufführung „Autoplay“ von Moritz Ostruschnjak macht Spaß und nachdenklich zugleich. Rhyhtmus verinnerlicht, das ist Stephan Herwigs „Rhythm & Silence“. Er setzt das Innehalten, die Stille, zur visuellen und zeitlichen Gliederung des Bewegungsflusses ein.
Moritz Ostruschnjak „Autoplay“
Wenn schon im World Wide Web klauen, dann mainstreammäßig konsequent. Moritz Ostruschnjak ist bei weitem nicht der Erste, der sich für ein Stück im Netz bedient wie in einem Baukasten voll anregender Ideen. Doch Respekt dafür, wie er – bzw. seine vier ganz verschieden famosen Tänzer – diesmal aus lauter kompilierten Fundstücken choreografische Kunst zu machen verstehen.
Mit der Einflussnahme von Digitalisierung und Virtualisierung auf die soziale und körperliche Fähigkeit, Eindrücke zu verarbeiten, hat sich der freie Münchner Choreograf schon wiederholt auseinandergesetzt. Für „Autoplay“ – ein wahrhaft tolles, sehr imitationsgeprägt-bildsynchrones Tanzstück – ist er laut Programmheft noch einen Schritt weiter gegangen. In Zusammenarbeit mit Video-Partner Moritz Stumm und Musik-Sampler Jonas Friedlich wurde Bild für Bild und jeder Ton digital gewildert. Derart schamlos offensichtlich, dass in Projektionen über Landschaftsimpressionen weiterhin schwachweiß das Copyright „gettyimages“ schimmert. Beim Tanz verwischen die Vorlagen stärker oder sorgen für Irritation, wenn choreografisches Zitat und musikalische Begleitung eigentlich gar nicht zusammenpassen. Genau in diesen Momenten aber entfaltet sich der – hier vordergründig negierte – kreative Reiz.
Im akustischen Bereich vermischen sich Hip-Hop und populistische Klänge, Halleluja und bekannte Songrefrains mit einem abenteuerlichen Opernstimmengemetzel. Später rütteln aus dem Off gesprochene Phrasen über Frieden und Anarchie das raffiniert in einen von Paradoxen nur so strotzenden Mix aus intermedial und live dargebotenen Aktionen eingelullte Publikum auf. Bequem geworden, weil die bisweilen lustige Flut und unvorhersehbare Plötzlichkeit sich gegen jedwede Möglichkeit, das Gesehene auf die Schnelle zu analysieren oder zu hinterfragen, sperrt. Dagegen klingt Martin Luther Kings „I have a dream“ nach einer Selfiestrecke von Menschen mit Waffen wie üble Beschwichtigung.
Filme von Robotern und Passagen aus Strawinskys „Sacre“, Bachs „Johannes-Passion“ und „Goldbergvariationen“, Strauss‘ „Also sprach Zarathustra“ oder Wagners „Walkürenritt“ fachen – aus dem eigentlichen Kontext herausgerissen – die Begeisterungswelle für scheinbar sinnfreie Verlinkungen weiter an. Schlicht auf den Punkt gebracht in dem anfangs im Hintergrund blinkenden Wort „Hype“. Ins Feld geführt wird auch der Begriff Hass. Szenisch dann nah dran am Crash, der ab und an auch optisch über die beiden TV-Bildschirme rechts und links der Tanzfläche flackert. Wie ein PC, den die redundante Benutzung der Tastenkombination „Copy & Paste“ überfordert.
Ein Problem der Technik, dem die immer wieder neu mit stylischen Moves und Steps, Querverweisen auf unterschiedliche Stile, pantomimischen Einlagen oder mit – wohl Figuren des Videospiels Fortnite abgekupferten – Grimassen auftrumpfenden Tänzer stets elegant aus dem Weg gehen. Dass einem ausgerechnet bei einem Stück, das die permanente Reorganisation und Loops im Klickprinzip zum Leitmotiv hat, zwei junge Talente ins Auge stechen – was sonst in der freien Szene eher selten ist – verpasst dem Abend zusätzlichen Ausnahmerang. Aber Annamarie Ajmone aus Italien und den Kanadier Daniel Conant muss man neben Cristian Cocco und Antoine Roux-Briffaud einfach gesehen haben.
Stephan Herwig „Rhythm & Silence“
Immer und immer wieder kommt es zum Stillstand. Das Innehalten – die reglose Stille zwischen zwei Tänzerinnen und zwei Tänzern – wird zum Muster. Zur visuellen und zeitlichen Gliederung des Bewegungsflusses in Stephan Herwigs neuem Tanz-Einstünder „Rhythm & Silence“.
Der Titel umspannt zwei Begriffe, die inhaltlich meist musikalisch ausgelegt werden. Herwigs choreografischer Ausgangspunkt hingegen war, unterschiedlichen Strukturen und Qualitäten von Rhythmus optisch Gestalt zu verleihen. Eine Idee, die sich im Nachgang der Erfahrungen seiner 2016 uraufgeführten Arbeit „Schweifen“ herausbildete. Je länger man jedoch nun den vier Interpreten im sich periodisch verändernden, lichtgewärmten Ambiente (Lichtstimmungen: Michael Kunitsch) des Schwere Reiter in München zusieht, desto mehr Beziehungsfäden lassen die Körper den Zuschauer gedanklich knüpfen.
Ein Bewusstsein für Leere und veränderbare Schemata beim sich wiederholenden Durchqueren des Raums drängt sich auf. Oder man verfolgt mit gespitzten Ohren den in einem Moment großer Stille zu Boden plumpsenden Tropfen Schweiß. Nur einmal dringt aus den Boxen rhythmischer Klang. Elektronisches Flüstern, das sich zu peitschendem Dancefloor-Beat steigert. Ausgerechtet zu einer choreografisch wunderschönen, etwas wie behütende Sorgsamkeit ausstrahlenden Sequenz, die zwei Paare seelenruhig und lange synchron im Zeitlupenmodus abspulen.
In sich verklammerte Bewegungen folgen hier ihrem ganz eigenen Puls. Alle Zugkraft und Dynamik der eingespielten Soundkulisse perlt spurlos an den Tänzern ab. Außer man stellt sich das Gesehene kurz vor dem inneren Auge als blitzgeschwinden Stunt vor. Als hektisches Aktionsknäuel aus je zwei Menschen, die in halsbrecherischer Umarmung impulskonform zum Hörerlebnis über den Boden kullern. Herwig aber versteht es meisterhaft, dem verführerischen Einklang von Tanz und Musik zu widerstehen. Stattdessen veranschaulicht er über weite Strecken Rhythmus als sehr innerliches Phänomen.
Jeden Anflug von Individualität oder persönlichem Ausdruckwillen haben Gaetano Badalamenti, Katrina E. Bastian, Anna Fontanet und Maxwell McCarthy dafür in der Umkleide zurückgelassen. Obwohl die Tänzer wiederholt zu skulpturalen Gebilden erstarren, dient der Tanz stets allein der Form. Gut so. Selten genug erlebt man Faszination ganz ohne Emotion. Und wenn am Ende acht Arme wie ein feines Räderwerk im Halbdunkel kreisen, hört und fühlt sich das schlicht überwältigend an.
Freischaffend choreografiert Stephan Herwig seit 2006 in München. Nach dem Förderpreis Tanz der Stadt München 2018 kann er dank Optionsförderung für die Jahre 2019 bis 2021 längerfristig planen. Dass auf „Rhythm & Silence“ ein Pendant namens „Noise“ folgen soll, erscheint schlüssig. Auch wenn der nach einer anstrengenden solistischen Passage lauter werdende oder sich mit weiten Schwüngen der Arme in die Länge ziehende Atmen und andere durch das Tanzen in Sneakern hörbare Geräusche bereits hier oft Taktgeber sind.
Moritz Ostruschnjak „Autoplay“ am 14. November und Stephan Herwig „Rhythm & Silence“ am 22. November im Münchner Schwere Reiter