Fast scheint es eine Selbstverständlichkeit geworden zu sein, die in den Dreißigerjahren aus Wien vertriebenen Angehörigen der Tanzszene ausschließlich der Moderne zuzurechnen. Waren die Jüdinnen und Juden vielleicht, so mag man überlegen, diejenigen, die dem Neuen gegenüber aufgeschlossener waren? Zwei Persönlichkeiten, Ruth Sobotka und Eric Braun, beweisen, dass auch Wiener „Klassiker“ im Ausland zu reüssieren wussten. Mehr noch, beide nahmen jeweils herausragende Positionen in den führenden amerikanischen Ballettensembles ein, und beiden war es vergönnt, ihre Kunst auch im Nachkriegs-Wien zu zeigen.
Ziemlich genau zwischen Geburtstagsjubiläen der Genannten liegt das Erscheinungsdatum dieser in Wien beginnenden und in New York sich fortsetzenden „Tanzgeschichte“: Am 10. Dezember 2023 wäre der gebürtige Wiener Erich Braunsteiner, als Principal Dancer des American Ballet Theatre bekannt als Eric Braun, 100 Jahre alt geworden (er verstarb 1970 im Alter von 46 Jahren), am 4. September 2025 würde die aus Wien stammende Ruth Sobotka, Tänzerin und Ausstatterin des New York City Ballet, ihren dreistelligen Geburtstag feiern (sie starb 1967 im 43. Lebensjahr). Sobotka war 1938 aus Wien vertrieben worden, Braun 1939.
Vorerst denkt man also bei den nach dem „Anschluss“ in die USA geflüchteten Wiener Tänzerinnen und Tänzer an jene aus der Domäne des Modernen Tanzes: etwa an Maria Ley (Piscator), Annie Lieser, Nelly Hirth, Etta Saloschin, Fritz Berger (in der Emigration Fred Berk), Trude Godwyn (Bunzel), Illa Raudnitz (Roden), Lily Calderon, Claudia Vall, Katia Delakova oder Hedi Politzer (Pope) – Hans Wiener (Jan Veen) und Otto Aschermann waren schon in den Zwanzigerjahren emigriert. Ruth Sobotka und Eric Braun aber waren klassisch ausgebildet. Sobotka, Tochter des Werkbund-Architekten Walter Sobotka, an der Privatschule von Hedy Pfundmayr, Braun an der Ballettschule der Wiener Staatsoper bei Risa Dirtl und Adele Krausenecker. Beide waren schon im Kindesalter auf den führenden österreichischen Bühnen aufgetreten. Sobotka mit dem Pfundmayr-Ballett in Aufführungen im Burgtheater in Molières „Der Misanthrop“ und Carl August Görners „Aschenbrödel“, Braun, von Ballettmeisterin Margarete Wallmann dafür ausgewählt, als Kind in Wilhelm Kienzls „Der Evangelimann“ in der Staatsoper.
Tänzerin und Kostümbildnerin einer der führenden Ballettkompanien der Welt
Die einschneidenden Veränderungen im Leben der jungen Ruth Sobotka hatten eine Unterbrechung ihrer Ballettausbildung zur Folge. Mit ihren Eltern in die USA geflüchtet, erlangte sie als Sechzehnjährige in New York einen High-School-Abschluss und absolvierte anschließend ein Bühnenausstattung-Studium am Drama Department des Carnegie Institute of Technology in Pittsburgh. (Dass die renommierte Ausbildungsstätte in jenen Jahren fest in Wiener Händen lag, sei vermerkt: Walter Sobotka lehrte an der Architekturabteilung dieses Instituts, die aus Wien geflüchtete Gertrud-Bodenwieser-Schülerin Godwyn unterrichtete 1944–55 Stagemovement am Drama Department.)
Ruths Traum von einer Tanzkarriere aber führte sie zurück nach New York, wo sie ihr Ballettstudium an George Balanchines School of American Ballet wieder aufnahm. Hatte Sobotka ihren ersten Unterricht in Wien in einem durch französische und italienische Schule geprägten Ballettstil erhalten, so tauchte sie nun ein in eine neue Spielart des Klassischen Tanzes. Der 1933 in den USA sesshaft gewordene georgisch-russische Tänzer und Ballettmeister Georgi/George Balantschiwadse/Balanchine hatte auf Einladung von Lincoln Kirstein eine Schule gegründet mit dem Ziel, ein „American ballet“ zu entwickeln. Der hauptsächlich von Emigranten auf der Basis des Russischen Balletts erteilte Unterricht – neben Balanchine lehrten in den Vierzigerjahren Pierre Vladimiroff, Anatole Oboukhoff, Anatole Vilzak, dazu die durch Anna Pawlowa geprägte Engländerin Muriel Stuart – erfuhr durch Einbeziehung moderner Techniken eine verstärkt auf „Movement“ abzielende neue Dimension. „Developing style, precision, brilliance, projection and deftness of execution“ waren Schwerpunkte der Schulung, die Sobotka nun als Vorbereitung auf ihre professionelle Bühnenkarriere erhielt. Davon, dass sie als Tochter eines Vertreters der „Zweiten Wiener Moderne“ in der Architektur eine besondere Affinität zur klaren und schnörkellosen Linie des von Balanchine geschaffenen „American ballet“ hatte, darf ausgegangen werden.
1946 wurde Sobotka – noch als Studierende – eingeladen, in der ersten Vorstellung von Balanchines und Kirsteins Ballet Society in Balanchines „The Spellbound Child“ („L’Enfant et les Sortilèges“) zu tanzen. In der Inaugurationsvorstellung am 11. Oktober 1948 des aus der Ballet Society hervorgegangenen New York City Ballet trat sie in Balanchines „Concerto Barocco“ auf. Mehr als zwölf Jahre sollte sie der maßgebenden Kompanie angehören – sowohl als Tänzerin wie auch als Kostümbildnerin! Damit zählt sie zu jenen Auserwählten, die als Ausführende die Arbeit des wohl bedeutendsten Choreografen des klassischen Tanzes im 20. Jahrhundert in seinen produktivsten Jahren begleiteten. Dies lässt sich an der Aufzählung von Werken ablesen, in denen Sobotka getanzt hat: „The Four Temperaments“, „Symphonie Concertante“, „Bourrée Fantasque“, „La Valse“, „Western Symphony“, „Ivesiana“, „Agon“, „The Figure in the Carpet“ sowie die Klassikeradaptionen „Swan Lake“, „The Nutcracker“ und „Pas de Dix“ (basierend auf dem Grand Pas classique in „Raymonda“). Dazu kamen früher entstandene Werke Balanchines wie „Apollo“ (in der Verfilmung durch CBC Television ist Sobotka als Leto zu sehen), „Serenade“ und „Symphony in C“.
Eine Hauptrolle, die Balanchine für Sobotka schuf, war 1951 die Nell in „Tyl Ulenspiegel“ zur Musik von Richard Strauss. Die Titelrolle in diesem zu den narrativen Balletten des Meisterchoreografen zählenden Werk verkörperte Jerome Robbins. Wiewohl „Tyl“ zu den aufwendigsten Produktionen der damals im New York City Center for Music and Drama beheimateten Kompanie zählt, verschwand es aufgrund der Zerstörung der Ausstattung durch Brand schon nach wenigen Saisonen aus dem Repertoire; seine europäische Erstaufführung hatte es 1952 im Rahmen des Gastspiels des New York City Ballet beim Edinburgh Festival erlebt.
Neben dem Balanchine-Repertoire tanzte Sobotka im New York City Ballet auch Werke anderer Choreografen, etwa Antony Tudors „Time Table“, Lew Christensens „Jinx“ und „Con Amore“, Robbins’ „Interplay“ und „Fanfare“ oder Todd Bolenders „Souvenirs“. Das Jahr 1951 markiert auch den Einstieg Sobotkas in ihren zweiten Wirkungskreis, dem der Kostümbildnerin. Für Robbins’ ikonenhaftes „The Cage“ schuf sie „imaginative costumes that added to the starkness of the work” (Anatole Chujoy). Weitere Kostümaufträge für das New York City Ballet erfüllte sie für Ballette von Francisco Moncion und John Taras. Neben all dem wurde sie 1954 von Balanchine in einer Broadway-Wiederaufnahme des Musicals „On Your Toes“ als Tänzerin eingesetzt.
Von 1952 an war Sobotka an den Europagastspielen des New York City Ballet beteiligt, ihre Eindrücke darüber schilderte sie in Berichten, die sie für „Dance Magazine“ verfasste. Am Beginn der vierten, 1956 erfolgten Europatournee standen Gastspiele bei den Salzburger Festspielen und an der Wiener Staatsoper, wo die Truppe vom 1. bis 9. September auftrat. Als Tänzerin war Sobotka im Haus am Ring vor allem in „Swan Lake“, „Serenade“ und „Western Symphony“ zu sehen, als Kostümbildnerin durch ihre Kreationen für „The Cage“. Welche Gefühle die Rückkehr in ihre Geburtsstadt bei Sobotka auslöste, ist nicht überliefert; Mitteilungen der Tänzerin über diese Tournee scheinen in der amerikanischen Tanzzeitschrift leider nicht auf. Dass Sobotka einem weiteren Haus am Ring einen Besuch abstattete, ist anzunehmen: 1952–53 hatte ihr Vater gemeinsam mit Erich Boltenstern das Gebäude am Schubertring 10–12 für die Veitscher Magnesitwerke erbaut (heute Hotel „Grand Ferdinand“).
Ein weiterer Karriereschritt hatte sich für Sobotka 1955 ergeben. Nachdem sie schon 1947 in Man Rays Abschnitt „Ruth, Roses and Revolvers“ von Hans Richters als surrealistischer Klassiker geltenden Experimentalfilm „Dreams That Money Can Buy“ gespielt hatte, verkörperte sie nun in Stanley Kubricks Film noir „Killer’s Kiss“ die von David Vaughan choreografierte Rolle der Tänzerin Iris. Für Kubricks nächsten Film, „The Killing“ (1956), fungierte Sobotka als Art Director. Seit 1952 waren die Tänzerin und der Regisseur liiert, die 1955 eingegangene Ehe wurde 1961 geschieden.
Nach ihrem Abschied vom New York City Ballet 1961 – zeitweise war sie auch in der Kompanie des Tanzavantgardisten James Waring aufgetreten – betrieb Sobotka ein Schauspielstudium bei dem Ex-Wiener Herbert Berghof (dem letzten Darsteller des Todes in Max Reinhardts originaler Salzburger „Jedermann“-Inszenierung) und im Actors Studio von Lee Strasberg. Neben der nun folgenden erfolgreichen Karriere als Off-Broadway-Schauspielerin blieb sie aber weiterhin viel beschäftigte Kostümbildnerin für Tanz (unter anderem für Erick Hawkins und Paul Taylor) und Schauspiel. 1963 stattete sie noch einmal ein Werk für das New York City Ballet aus, John Taras’ „Arcade“.
Sobotkas Tanzkollegin Valda Setterfield über die Vielbegabte: „She was interested in everything and was always open to the occasion and never tempered by any kind of rules or form.“ Und David Vaughan fügt hinzu: „She was the kind of person that anything she undertook she would become the best of it.“
Für das nach Sobotkas frühem Tod erschienene Erinnerungsbuch „Ruth“ (1968) schreibt Jerome Robbins: „I knew Ruth personally, and in work as a dancer, a designer, an actress. She was special to be and to work with. The word ‚special‘ includes the pleasure of her company; the delight in her personality, the admiration of her craft, art, talent and instinct; the appreciation of her sensitivity to what and who were about her; and the gratitude for her contributions. Through all of these there remained that singularly marvelous person. She was special and we miss her.“
„Wiener tanzte sich ins US-Ballett“
Schon drei Jahre vor Ruth Sobotkas Wien-Besuch war Eric Braun in seiner Eigenschaft als Principal Dancer des American Ballet Theatre nach Wien zurückgekehrt. Das Gastspiel des „American National Ballet Theatre“, so die Bezeichnung der Truppe bei ihrem Auftreten im damals noch von den Siegermächten besetzten Österreich, fand vom 12. bis 18. Juni 1953 in der von der Staatsoper bespielten Volksoper statt. Der Wiederaufbau der im Krieg zerstörten Staatsoper, an der der Tänzer seine Ausbildung erhalten hatte, war noch nicht abgeschlossen. Wie zuvor schon die anderen Besatzungsmächte hatten nun auch die USA eine Balletttruppe als Zeugnis kultureller Identität entsendet – die Sowjetunion tat dies durch eine Solistendelegation des Bolschoi-Balletts mit Galina Ulanowa an der Spitze, England durch das Sadler’s Wells Ballet, Frankreich durch das Ballett der Pariser Opéra und Roland Petits Ballet de Paris. Die Amerikaner versetzten das Wiener Publikum sowohl durch ihr Repertoire – gezeigt wurden Ballette von Michail Fokin, Balanchine, Robbins, Agnes de Mille und Jean Babilée – wie auch durch seine exzellenten Tänzerinnen und Tänzer in Begeisterung. Hohen Anteil daran hatte Braun, dessen Wiener Abstammung sehr wohl von der Presse hervorgehoben wurde: „Wiener tanzte sich ins US-Ballett“ lautete ein Titel im „Wiener Kurier“. Der mittlerweile Dreißigjährige wurde von der Wiener Kritik gepriesen als „überragendes Talent“, das „sein außerordentliches Können bewies“ und „mit Elan und Geschmeidigkeit durch die Szenen tanzte“. Er und seine Kollegen bestachen durch „unglaubliches tänzerisches und akrobatisches Können und eine Vitalität der Gestaltung, die hinreißt“, Braun insbesondere zeigt im Solo „dem Gesetz der Schwere hohnsprechende Elastizität“.
Als Fünfzehnjähriger mit seinen Eltern aus Österreich geflüchtet, war dem angehenden Tänzer zunächst Kalifornien zu einer neuen Heimat geworden. Die beste aller Möglichkeiten, sein Ballettstudium fortzusetzen, bot sich im Studio der großen Bronislawa Nijinska. Tänzerische Beschäftigung fand er in Hollywood-Filmen, deren Choreografien von David Lichine und dem im Exil lebenden Max-Reinhardt-Tänzer Ernst Matray stammten. (Matray wie auch die Nijinska waren kurze Zeit für das Ballett der Wiener Staatsoper tätig gewesen.) Nach dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg erfuhr Brauns Karriere eine Zäsur, er wurde seinem Herkunftsland entsprechend in eine Skitruppe eingezogen. 1945 stellte die Nijinska die Weichen für eine Fortsetzung der künstlerischen Karriere ihres Schülers. Sie empfahl ihn Lucia Chase, der Leiterin des 1940 gegründeten American Ballet Theatre.
Die Art der Rollen, die Braun während der nächsten zehn Jahre tanzte – oft auch als Partner seiner Ehefrau, der Ballerina Ruth Ann Koesun –, geben Zeugnis für seine außergewöhnliche Vielseitigkeit. Seine darstellerische Exzellenz konnte er als Rollennachfolger von Babilée in dessen auf Virtuosität und Groteske abzielender Gestaltung der Titelrolle in „Til Eulenspiegel“ beweisen. (Babilées Behandlung des Stoffs zur Musik von Strauss war 1951 beim American Ballet Theatre herausgekommen, also im selben Jahr, in dem Balanchine seinen „Tyl Ulenspiegel“ für das New York City Ballet kreierte.) Seine technische Brillanz konnte Braun als Boy in Green in Frederick Ashtons „Les Patineurs“ und Robbins’ „Interplay“ ausspielen. Alain in „La Fille mal gardée“ und der Lead Cadet in Lichines „Graduation Ball“ waren Aufgaben, die seine Demi-caractère-Qualitäten in den Vordergrund rückten.
Die enorme Bandbreite seiner künstlerischen Fähigkeiten belegen auch die so unterschiedlichen Aufgaben in Antony Tudors tiefgründigem „In the Shadow of the Wind“ zu Gustav Mahlers „Das Lied von der Erde“ und Roland Petits von Pariser Chic durchpulstem „Demoiselles de la nuit“. In Nijinskas 1951 für die Kompanie kreiertem Spätwerk „Schumann Concerto“, das laut John Martin auf „the desire to recapture the flavor of the romantic period“ basierte, waren Igor Youskevitch, Eric Braun, Erik Bruhn und Royes Fernandez die illustre Besetzung der männlichen Partien. Die vielleicht größten Erfolge aber trugen Braun die Rollen der Matrosen in „Fancy Free“ ein; abwechselnd tanzte er zwei der drei Hauptpartien dieses „perfect American character ballet“ (Edwin Denby) von Robbins und Leonard Bernstein.
1956, am Höhepunkt seiner tänzerischen Laufbahn, verabschiedete sich Braun vom American Ballet Theatre, er gründete eine Schule, die North Shore Academy of Dance in Highland Park, Illinois, und arbeitete im Raum Chicago verschiedentlich als Choreograf. Eine 1970 während des Unterrichts in seinem Studio erlittene Herzattacke beendete sein Leben.
Resümierend kann festgestellt werden, dass die beiden „klassischen“ Wiener Eric Braun und Ruth Sobotka markante Footprints im amerikanischen Ballett hinterließen. Vor ihnen war dies im 20. Jahrhundert schon einer ganzen Reihe ihrer „Landsleute“ gelungen: Bianca Froehlich (im Metropolitan Opera House), Albertina Rasch (im Century Opera House, am Broadway und in Hollywood) oder Tilly Losch (am Broadway, in Hollywood und beim American Ballet Theatre). Nicht zu vergessen im 19. Jahrhundert Fanny Elßler, die mehr als zwei Jahre ihres Lebens in Amerika tanzend verbrachte und vom US-Präsidenten Martin Van Buren im Weißen Haus empfangen wurde. Was die Länge ihres Aufenthalts in der Neuen Welt betrifft, wurde sie noch von Josephine Weiß und ihren „Viennese Children“ übertroffen, die fast drei Jahre Triumphe auf amerikanischen Bühnen feierten. Und die Komponistentochter Katti Lanner setzte mit ihrer „Viennoise Ballet Troupe“, der auch die spätere Erste Tänzerin der Hofoper und Makart-Gemahlin Bertha Linda angehörte, nicht nur Spuren im New Yorker Grand Opera House, sie choreografierte auch für Niblo’s Garden und gründete eine Ballettschule in New York. (Um den Lokalpatriotismus nicht über Gebühr zu strapazieren, soll in dieser Betrachtung der „halbe Linzer“ Frederick/Fred Austerlitz/Astaire und sein Wirken als Allzeitgröße am Broadway und in Hollywood ausgespart bleiben.)