Der von Lucinda Childs 1992 bei den Salzburger Festspielen für Catherine Malfitano innerhalb von Luc Bondys Inszenierung choreografierte Tanz der Salome in Richard Strauss’ Oper – er ist seit dem 15. September 2023, ausgeführt von Astrid Kessler, in der Rekreation besagter Inszenierung an der Volksoper Wien zu sehen – sowie die vor 113 Jahren von Alexander von Zemlinsky musikalisch geleitete, von Rainer Simons in Szene gesetzte und von Alfred Roller ausgestattete erste Aufführung der „Salome“ an diesem Haus geben Anlass, auf die eigentliche Wiener Erstaufführung dieser Oper zurückzublicken.
Die am 23. Dezember 1910 stattgefundene Aufführung der Volksoper war zwar die erste Wiener Eigenproduktion der „Salome“ – Bemühungen Gustav Mahlers, das Werk an der Hofoper herauszubringen, waren von der Hoftheaterzensur vereitelt worden; die österreichische Erstaufführung hat sich bekanntermaßen 1906 in Graz ereignet –, die tatsächlich erste Wiener Aufführung aber war schon am 25. Mai 1907 über die Bühne des Deutschen Volkstheaters gegangen. Es handelte sich dabei um ein Opern-Gesamtgastspiel der Vereinigten Theater in Breslau, das ursprünglich in der Volksoper hätte stattfinden sollen.
Die 1906 erfolgte Breslauer „Salome“-Einstudierung war in der Wirkungsgeschichte dieser Oper die zweite nach der Uraufführungsproduktion in Dresden 1905. Die für drei Wochen anberaumte Wiener Aufführungsserie musste wegen großen künstlerischen und materiellen Erfolgs verlängert werden. Das „Salome-erprobte“ Deutsche Volkstheater – 1903 gelangte in diesem Haus Oscar Wildes Drama „Salome“ zur Wiener Erstaufführung – war allabendlich ausverkauft. Letztendlich brachte man es bis zum 20. Juni 1907 auf 26 Vorstellungen! In der vom Wiener Julius Prüwer dirigierten Premiere sang und tanzte die gebürtige Slowenin Fanchette Verhunk (1874–1944) die Titelpartie. In Folgevorstellungen alternierte sie mit Margarete Kahler (Elberfeld), Fina Widhalm (Breslau), Albine Nagel (Brünn), Jenny Korb (Graz) und Thyra Larsen (München). Arthur Schnitzler, der die Vorstellung am 18. Juni besuchte, vermerkte in seinem Tagebuch: „Die Verhunk enorm.“
Verhunk gilt im Folgenden unser besonderes Interesse, war sie doch die erste Darstellerin der Strauss’schen Salome, die im Tanz auf ein Double verzichtete. (Die Dresdener Uraufführungsinterpretin der Titelpartie, Marie Wittich, war von Sidonie Korb im Tanz vertreten worden.) In einem in der „Zeit“ veröffentlichten Interview (30. Mai 1907) erläutert die am Wiener Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde ausgebildete und dem Wiener Publikum von Gastspielen an der Hofoper (in Gustave Charpentiers „Louise“ unter dem Dirigat von Mahler und in Ambroise Thomas’ „Mignon“) bekannte Künstlerin:
„Ich war die zweite Salome überhaupt und die erste, die sie nicht bloß sang, sondern auch tanzte. Ich kann mir nicht denken, wie man das Stück anderswo mit einer Balletteuse geben kann. Ich halte es für höchst unkünstlerisch. Ich pflege mich in meine Rollen so tief einzuleben, daß es mir unmöglich wäre, mich im entscheidenden Moment der Handlung durch eine Tänzerin ersetzen zu lassen. Das würde mich ganz aus dem Konzept bringen. Wie könnt’ ich das Haupt des Jochanaan bekommen, wenn ich nicht selbst getanzt hätte? Ich gebe zu, daß es für die Darstellerin sehr schwer ist, zu singen u n d zu tanzen. Die Vollkommenheit der Rolle erfordert es. Ich ließ mir von unserer Ballettmeisterin in Breslau einen Monat die Schritte beibringen, dann legte ich mir den Salometanz selbst zurecht. Ich wendete dabei das Prinzip der Duncan an, obwohl ich diese nie gesehen habe. Ich versuchte den Gehalt der Musik durch rhythmische Bewegungen auszudrücken. Das ist alles … Bei der Generalprobe und der Premiere in Breslau war Richard Strauß anwesend. Er war entzückt als er mich singen hörte u n d tanzen sah. ‚Jetzt weiß ich endlich, wie die Salome wirklich dargestellt werden kann‘, sagte er zu mir.“
Strauss mochte die Interpretation Verhunks umso mehr geschätzt haben, als sie genau jenen Vorstellungen entsprach, die er selbst davon hatte. Diese äußerte er gegenüber Maria Jeritza, die 1918 die erste Salome an der Wiener Hofoper war und 1920 die Rolle erstmals unter seinem Dirigat gab. Der Komponist, so berichtet Jeritza, sah den Tanz der Salome als Bewegungsablauf in einer rhythmischen Einheit. Und zur Entkleidung meinte er, dass sie nur für einen kurzen Moment nackt sein dürfe.
Auf den Erfolg, den die Breslauer mit der Strauss’schen „Sensationsoper“ 1907 erzielt hatten, reagierte das theatralische Wien sofort. Schon am 11. Juni 1907 – also noch während der Aufführungsserie der Oper im Deutschen Volkstheater – setzt das Lustspiel-Theater im Prater die Burleske mit Gesang „Salome, die Zweite“ auf seinen Spielplan. Die Autoren des in St. Pölten spielenden „witzigen Ulks“ waren C. Carl und Karl Strobl; die „geistreiche“ Musik schrieb Theobald Kretschmann, seines Zeichens Kapellmeister an der Volksoper, der in seiner Eigenschaft als Dirigent von Kammer- und Orchesterkonzerten auch Kompositionen des jungen Strauss zu Gehör gebracht hatte. Unter den Namen der Mitwirkenden ragt der von Gisela Werbezirk hervor. Dass man mit diesem Unterfangen eine alte Wiener Tradition pflegte – man denke nur an die Opernparodien aus der Feder von Johann Nestroy –, muss nicht extra erwähnt werden.
Dass Wien 1906 schon zum Schauplatz der Uraufführung einer tanztheatralischen „Salome“ geworden war – die amerikanische Pionierin des Modernen Tanzes Maud Allan hatte am 30. Dezember im Carl-Theater ihr Solostück „Die Vision Salomes“ zu Musik von Marcel Rémy präsentiert –, wäre hingegen Stoff für eine eigene „Wiener Tanzgeschichte“. Allan, die 1903 im Kleinen Musikvereinssaal ihr Tanzdebüt gegeben hatte, hegte die Absicht, an der Hofoper aufzutreten. Bei Vorführungen ihrer „Salome“-Kreation – zunächst vor Ballettregisseur Josef Hassreiter und Mimiker Carl Godlewski, dann vor Obersthofmeister Fürst Montenuovo und Direktor Mahler – soll Allan laut Presseberichten Beifall gefunden haben. Auch Strauss wurde gebeten, dem „Vortanzen“ beizuwohnen, er war jedoch verhindert. Die Weigerung der „Barfußtänzerin“, dem Wunsch der „Begutachter“ nachzukommen, ein Trikot anzuziehen, führte schließlich zur Ablehnung ihres Anerbietens. Somit blieb es dem Carl-Theater vorbehalten, in dem 1903 und 1904 schon Isadora Duncan aufgetreten war, zu einem Karrieresprung der Tanzpionierin beizutragen. Bis der „Salome“-Stoff in das Haus am Ring einziehen sollte, vergingen bekanntlich noch etliche Jahre.
Ehe Salome „hoftheatertauglich“ wurde, trat die Tochter der Herodias in Gestalt der „Nackttänzerin“ Adorée Villany mehrfach in Wien in Erscheinung (als „nackt“ auf der Bühne galt, wer sich spärlich bekleidet ohne Trikot zeigte). Über ihre Darbietung 1908 im Kleinen Schauspielhaus in der Johannesgasse befand die Presse: „In ihrer Salome lodert wilde Glut und begehrliche Leidenschaft flammt auf.“ 1911 zu zweifelhafter Berühmtheit gelangt – ihre Salome-Vorstellung war in München von der Polizei sistiert worden –, zelebrierte sie im Künstlerhaus ihren Tanz der sieben Schleier „vor einem kleinen Kreise geladener Herren“. Die „Illustrierte Kronen Zeitung“ (30. Dezember 1911) berichtete in Wort und Bild über das Ereignis, „zu dem zur großen Enttäuschung von Frauen und Mädchen nur ernste Männer der Kunst Zutritt hatten“. Man resümiert: „Die Villany zeigte sich barfuß – aber wenn man so sagen kann – barfuß bis zum Kopfe hinauf. Wie sie so vor dem Publikum dasteht, mit fast nichts anderem als ihrer Schönheit bekleidet, könnte sie als Sinnbild der nackten Wahrheit, wenn auch nicht gerade der ungeschminkten Wahrheit gelten.“ Villany selbst wollte ihren schon 1905 kreierten Salometanz als eine „kulturhistorische Tanzform aus ältester Zeit“ verstanden wissen. Der 1906 in Berlin mit ihr gedrehte Film „Tanz der Salome“ wurde seitens der k. k. Polizeidirektion in Österreich mit Aufführungsverbot belegt. Der brillante Edwin Denby, der mit der Reformtänzerin in den Zwanzigerjahren in Wien in Kontakt getreten war, bezeichnete sie als „ahead of her time, behind Isadora’s“.
PS
Zur eingangs angesprochenen ersten „Salome“-Produktion an der Volksoper sei noch bemerkt, dass der Komponist selbst am 9. April 1911 am Pult stand. Die Sängerin der Titelpartie war wie bei der Premiere am 23. Dezember 1910 Klothilde Wenger. Über sie weiß man, dass sie im Tanz gedoubelt wurde. Niemand Geringeres als Clementine Krauss, ehemalige Mimikerin des Hofopernballetts, nahm ihren Platz ein. Dass ihr damals 17jähriger Sohn Clemens, nachmaliger Direktor der Wiener Staatsoper, unter den Zuschauern weilte, ist anzunehmen. Welch unterschiedliche Wirkung vom Tanz der Salome ausgehen konnte, veranschaulicht eine Rezension in der „Wiener Allgemeinen Zeitung“ (21. Februar 1911) über die Gastspiele von Gemma Bellincioni (sie war die erste Interpretin der Salome in Italien) und Aino Ackté (die erste Londoner Salome) im Jänner und Februar 1911. Während der Tanz der Bellincioni als „Inkarnation sexueller Anarchie“ gesehen wurde, empfand man den Tanz der Ackté als Varieténummer: „ein wenig Cancan, ein wenig Bauchtanz, zum Schluss sogar ein wenig Schuhplattler.“
ANHANG
Wiewohl der Tanz der Marie Gutheil-Schoder – nach der Jeritza war sie 1918 die zweite Salome im Haus am Ring – nicht mehr den „frühen“ Wiener Salome-Tänzen zuzählen ist, scheint es doch am Platz, hier zwei Kritikermeinungen wiederzugeben. Die Sängerin, zu deren Strauss-Partien auch die mimische Rolle von Potiphars Weib in der „Josephs Legende“ (1922) zählte, erhielt für ihren Tanz der Salome Kritiken wie sie zu dieser Zeit kaum einer Tänzerin des Hauses zuteilwurden.
„Die Zeit“, 21. Oktober 1918:
„In der gestrigen „Salome“-Aufführung hat Frau Gutheil-Schoder zum erstenmal die Salome gesungen. [Die] bewunderungswürdige Leistung der Künstlerin von Geist und Nerven ist schlechtweg vollkommen und gewiß eines der stärksten Erlebnisse, das man in einem Operntheater haben kann … Die Kraft des Ausdruckes in der spröden Stimme der Frau Gutheil-Schoder ist hinreißend, nicht minder das künstlerisch disponierte Spiel. Der Tanz allein, bei dem die Künstlerin aus den Rhythmen der Musik heraus zu Bewegungen, Biegungen, Schritten inspiriert wird, ist ein kleines Kunstwerk für sich. Kein Ballettanz, sondern eine dramatische Episode voll Schönheit und Charakteristik in einem von stärkster dramatischer Kraft erfüllten Ganzen, dessen Genialität vom Publikum mit Gebühr bejubelt wurde.“ [ungezeichnet]
„Neue Freie Presse“, 22. Oktober 1918:
„Samstag gab Frau Gutheil-Schoder die Salome. Ihr Schleiertanz ist eine Sehenswürdigkeit. Frau Gutheil-Schoder tanzt nicht um die Zisterne; ein kleiner Teppich wird aufgelegt und auf ihm vollzieht sich die Handlung, die den Herodes um den Verstand, den Jochanaan um den Kopf bringt. Man sieht dem grausamen Spiel in atemloser Spannung zu. Das Aufflammen aus kindischem Trotz bis zu ekstatischer Bewußtlosigkeit, die erregten Vorstellungen, die sich in dem zuckenden Körper, dem bleichen Gesicht, den glühenden erstarrten Augen spiegeln, bis sich der orgiastische Krampf löst und das wollüstige Stöhnen zum Schrei wird: „Ich verlange von dir den Kopf des Jochanaan!“ – vollendeter kann die Szene nicht dargestellt werden.“ [gezeichnet – r. –]