Es ist nicht nur die furiose, vor 50 Jahren entstandene Volksopernproduktion „West Side Story“, die in Wien an das kongeniale Künstlerduo Jerome Robbins/Leonard Bernstein denken lässt. Auch ein diesen Herren – sie wären beide heuer 100 Jahre alt geworden – Nahestehender bringt sich in Erinnerung, da er überaus kompetent Betrachtungen sowohl über den Choreografen als auch den Komponisten wie Ballettdirigenten anstellte: Edwin Denby. Dieser hatte sein „Analysebesteck“ in den Zwanzigerjahren unweit von Wien, in der Schule Hellerau-Laxenburg erhalten!
Blickt man heute auf das Leben des vielfachbegabten Denby (1903–1983), so ist man sich nicht einig darüber, ob der Amerikaner aus bestem Haus in Wien nur einen damals angesagten Psychoanalytiker – Paul Federn – konsultieren, oder sich zum modernen Tänzer ausbilden lassen wollte. Schließlich tat Denby beides, die Schriften des nachmals berühmten Poeten und Ballettkritikers zeugen davon. Art und Weise wie er Robbins einerseits und Bernstein andererseits charakterisiert, suchen ihresgleichen. Doch noch waren die beiden Jüngeren nicht in sein Leben getreten. Während nämlich der am 11. Oktober 1918 als Sohn russisch-jüdischer Emigranten in New York geborene Robbins noch voll Neid auf das Duncan-Studium seiner Schwester blickt und der am 25. August 1918 in Massachusetts geborene, von ukrainisch-jüdischen Emigranten abstammende Bernstein Klavier studiert, feilte Denby, der ab den Dreißigerjahren zu einer Kultfigur der amerikanischen Tanzszene aufstieg, in Laxenburg an seinem Diplomaufsatz. Er hatte ihn „Über die seelischen Rückwirkungen der Gymnastik“ benannt und erfüllte damit den Anspruch von Hellerau-Laxenburg und der österreichisch-deutschen Tanzmoderne, wonach der Mensch in seiner „Gesamtheit“ zu sehen ist. Gerade in dieser Hinsicht sollte ihm Robbins später folgen. Während Denby sich nach einer Tanzkarriere in Deutschland in seinem Heimatland schreibend, zuweilen auch filmend niederließ und sich dabei eher im Hintergrund hielt, begann die Karriere von Robbins beziehungsweise von Bernstein bald zu strahlen.
Leidenschaften, durch Lässigkeit gezügelt
Dem lässigen Herrn, der in den Achtzigerjahren mit seinem Hund vom Lincoln Center kommend am frühen Nachmittag ein Stück vom Central Park abschritt, um Downtown zuzustreben, war nicht anzusehen, dass er zu den herausragenden Persönlichkeiten des amerikanischen Musiktheaters gehört. Der Gang des Herrn, der bei genauerer Betrachtung als ein Mittsechziger zu erkennen ist, ist federnd, was darauf verweist, dass er etwas mit Tanz zu tun hat, nichts Außergewöhnliches in diesem Viertel der Stadt. Der Mann, der trotz seines strahlend weißen Barts sich eine fast jugendliche Ausstrahlung bewahrt hat und dadurch einen Zustand des heiteren Seins vermittelt, gibt sich dementsprechend: Einfach und leutselig grüßt er mit natürlicher Liebeswürdigkeit jene, die ihn im Vorübergehen erkannt haben, aber, wie in New York üblich, kein besonderes Aufsehen darob machen. Man ist über die Arbeit des Herrn informiert, über Jahrzehnte hinweg war sie Stadtgespräch gewesen. All die sensationellen Broadway-Produktionen waren von ihm – Jerome Robbins: etwa „On the Town“ (1944) und „The King and I“ (1951). Vor „Gypsy“ (1959) aber stand jenes Musical, „West Side Story“, das zu seinem berühmtesten Werk wurde. 1957 war es herausgekommen, 1961 war dann die Filmfassung entstanden, die ihm endgültig zu Weltruhm verhalf. Auch „Fiddler on the Roof“ (1964) erzielte einen ähnlichen Erfolg. Für Robbins hatte dieses Werk noch eine ganz besondere Bedeutung: Aufgrund seiner jüdischen Thematik konnte er damit seinen Vater zutiefst beeindrucken. Alle die Musicals hatte er choreografiert und teilweise auch inszeniert und es waren auch diese Produktionen, die aus dem Broadway nach dem Zweiten Weltkrieg das machten, was er heute ist: Ein Ort, wo die Welt hinpilgert, um die besten Produktionen zu sehen. Und jeder wusste, dass dieser mit Preisen überschüttete Herr nach all den großen Musical-Erfolgen schon längst wieder, wie schon vor seinen Musical-Jahren, Choreograf des New York City Ballet war. Jeder wusste auch, dass er dort – so gefeiert er auch außerhalb des Hauses war – nicht vor, sondern neben George Balanchine stand, demjenigen „georgischen“ Russen also, dem es seit den Dreißigerjahren gelungen war, einen zwar klassisch-akademischen, aber eindeutig amerikanischen Ballettstil zu kreieren. Endlich hatten dieser Stil und das Ensemble im New York State Theater im Lincoln Center eine Bleibe gefunden.
Robbins konnte übrigens am selben Nachmittag ein weiteres Mal zu sehen sein, zu diesem Zeitpunkt kehrte er nämlich zum New York State Theater zurück, um an einem neuen Stück zu arbeiten. Diesmal, so hieß es, hätte es sich einem weiteren großen amerikanischen Komponisten, dem Minimalisten Philip Glass zugewandt. Die Tänzer, die ebenso dem Theater zustrebten, erhofften sich einen gutgelaunten Robbins. Sie wussten, dass er auch andere Seiten hatte. Bei einer Probe war es – so gingen die Gerüchte – zu einem jener berüchtigten Ausbrüche von Robbins gekommen, die einen Tänzer des Ensembles zu der Bemerkung hinreißen ließ, er hätte später in seinem Leben nichts mehr zu befürchten, auch den Teufel nicht, er sei ja bereits Jerome Robbins begegnet.
So unterschiedlich und polarisierend wie Robbins’ Charakter, so stilistisch vielschichtig ist auch sein Schaffen. Ausgebildet bei solchen Legenden wie dem Amerikaner Eugene Loring und dem Engländer Antony Tudor, aber auch bei dem berühmten Schauspiellehrer Elia Kazan, gelang ihm nach einigen Jahren als Tänzer mit seinem choreografischen Erstling sofort ein Hit. „Fancy Free“, 1944 zur Musik des jungen Bernstein für das American Ballet Theatre herausgebracht, gehört zum festen Bestand von „Americana“, somit zum kulturellen Erbe des Landes.
„Fancy Free“: Die Zusammenarbeit von Robbins und Bernstein
Die sich über Jahrzehnte hinziehende überaus erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen dem Choreografen Robbins und dem Komponisten Bernstein kann am besten durch Zitate der beiden, die wie sich aufschaukelnde Dialoge wirken, wiedergegeben werden. Für „Fancy Free“ lassen sich die Entwicklungsschritte der Kreation detailliert nachzeichnen. Schon bei der ersten Begegnung herrschte purer Enthusiasmus. Bernstein: „Wir (Robbins und Bernstein) wurden verrückt. Ich begann noch in seiner Anwesenheit das Thema zu entwickeln.“ Dann kam die Angst beider, mit ihrem Werk nicht zu reüssieren. Robbins: „Die Musik ist sehr jazzy, irgendwie wie Copland. Bis jetzt macht es Spaß (…) aber ich bin besorgt, es muß gut werden.“ Robbins muss seinen Verpflichtungen als Tänzer nachkommen, Bernstein komponiert in New York, Robbins bekommt einzelne komponierte Seiten, manches wird via Telefon weitergegeben, beide sind völlig erschöpft. Robbins brauche zusätzliche Takte, Bernstein meint, musikalisch sei diese Phrase abgeschlossen, doch Robbins beharrt darauf, für die Tänzer seien sie nötig. Bernstein fügt die Takte hinzu. Die weitere Zusammenarbeit ist, nach Robbins, „Spaß, extrem aufregend, deprimierend, ärgerlich, anstrengend, berührend.“ Endlich kann Robbins nach New York kommen, Choreograf und Komponist arbeiten nun gemeinsam im Ballettsaal. Robbins steht hinter Bernstein, er hat die Hände auf seine Schultern gelegt und schlägt den Takt, Bernstein weiß so, was er zu komponieren hat. Das Ballett wird am 18. April 1944 in der alten Metropolitan Opera in New York mit Bernstein als Dirigent aufgeführt. Man wartet bis Mitternacht, bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die „New York Times“ mit der Rezension erscheint. Tanzkritiker John Martin meint, „Fancy Free“ sei ein „smash hit“, mit dem der Choreograf nur ein einziges Problem hätte. Wie könne man, so Martin, an einen solchen Erfolg anschließen? Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt ahnen, dass den beiden, Robbins und Bernstein, noch weit größere Erfolge gelingen sollten.
In diesem Zusammenhang soll der eingangs erwähnte Denby ins Spiel kommen, der gerade in diesen Jahren das Aufblühen der amerikanischen Tanz- und Musiktheaterszene beobachtend begleitet. Denby hatte wie schon erwähnt, seine Befähigung, körperliche Bewegung zu analysieren in der Schule Hellerau-Laxenburg erlernt. Die Ausbildung vermittelte nicht nur die körperlichen Voraussetzungen für eine Tänzerkarriere, sondern auch ein geistiges Rüstzeug, um Wahrnehmungsprozesse, die Körper, Seele und Geist betreffen, tatsächlich einordnen und artikulieren zu können. Solcherart ausgerüstet, resümiert Denby in seinem Aufsatz die geistigen Säulen der damaligen Tanzmoderne. Wozu diese Ausbildung aber auch dienen konnte, zeigt Denby unter anderem in seinen Tanzkritiken, in denen er nicht nur die Werke von Robbins, etwa „Fancy Free“, analysiert, sondern auch – als einer von ganz Wenigen – über das Dirigieren von Balletten sowie über Ballettdirigenten selbst nachdenkt. Denbys Basis für diese Analyse ist eine in seiner Ausbildung erfahrene Dirigierübung, deren Essenz er wie folgt formuliert: „Das Dirigieren der Bewegungen Anderer mittels der eigenen Bewegung“. Eines der Dirigate, das Denby näher bespricht, ist das von Bernstein in „Fancy Free“:
„In ‚Fancy Free‘ war Leonard Bernsteins Taktgebung regelmäßig, und, was noch wichtiger war, beschwingt. Die erste Abwärtsbewegung des Taktstocks, bei gleichzeitigem Emporschnellen des Oberkörpers, bewirkte einen sofortigen Rückprall, wie beim Aufschlagen eines Tennisballs. Er kann die Illusion einer Temposteigerung vermitteln, indem er seine Dynamik steigert, ein lebhaftes Crescendo hinzufügt, sodass er das Tempo nicht wirklich beschleunigen muss um der Vorstellung mehr Schwung zu geben. Eine solche Schlagart hebt die Tänzer empor und gibt ihnen Vertrauen, sie spüren, dass er sie in einer schnellen Sequenz nicht atemlos hetzen oder sie in einer nostalgisch-langsamen Kadenz nicht hängen lassen wird. Und man konnte sehen, dass die Tänzer, selbst wenn sie müde auf die Bühne kamen, auf Mr. Bernstein reagierten wie Jazzer auf Harry James.“
Robbins wächst zu einer amerikanischen Größe
Die Zusammenarbeit Robbins/Bernstein fand 1946 Fortsetzung mit „Facsimile“ für das American Ballet Theatre. Seit 1949 für das New York City Ballet als Choreograf tätig, gelangen Robbins mit „Age of Anxiety“ (1950, Musik: Bernstein), und „The Cage“ (1951, Musik: Igor Strawinski) auch für dieses Ensemble nachhaltige Erfolge. In den genannten frühen Werken widerspiegelt sich Robbins’ so ambivalentes Innere. Erzählte „Fancy Free“, das später zum Musical „On the Town“ erweitert wurde, vom unbeschwerten Landgang dreier Matrosen, so handelt „Facsimile“ von unsicheren und einsamen Menschen. Das weitere Bernstein-Ballett „Age of Anxiety“ beschwört Weltenangst herauf, das Ballett zu Strawinski gar eine bedrohliche Frauenpopulation, die männermordend dem Publikum Angst macht. Robbins’ Fassung von „Afternoon of a Faun“, 1953 entstanden, zeigte ihn wie selbstverliebt in die eigene Kunst – den Tanz. Seine Gabe für scharfe Beobachtung stellte er 1956 in „The Concert“ unter Beweis, ein Ballett, in dem er in höchst witziger Weise jene gesellschaftlichen Konventionen aufzeigt, die als Hörgewohnheiten von Konzertbesuchern üblich sind. Darauf entstand wieder etwas völlig Gegensätzliches. Das Werk, mit dem Robbins Ende der Fünfzigerjahre schlagartig in Europa bekannt wurde, war von einer „amerikanischen“ Truppe beim damals ungemein populären italienischen „Festival dei Due Mondi“ in Spoleto getanzt worden. Das „amerikanische“ Werk hieß „New York Export: Opus Jazz“ (1958, Musik: Robert Prince). Das von Robbins da ausgebreitete choreografische Material hätte nach dem Krieg nicht besser die „neue“, „andere“ Welt repräsentieren können. Und wer geglaubt hatte, dass Robbins den eingeschlagenen, erfolgreichen Weg einige Zeit so weitergehen würde, der irrte gewaltig. Statt einer Serie von Jazzballetten, brachte Robbins als nächstes Werk ein Ballett ohne Musik heraus. Das 1959 entstandene „Moves” war eine Bewegungsstudie in völliger Stille. Und obwohl man sich in dieser Zeit – besonders in Europa – über jede „Verwendung“ seriöser Komponisten erregte, die – nach der Meinung vieler – durch die „Vertanzung“ gleichsam entehrt wurden, stellte sich nun vis à vis der Stille größtes Befremden ein. Auch dies kümmerte Robbins wenig, er war mittlerweile sehr rasche Wechsel gewöhnt, sie waren geradezu sein Markenzeichen geworden: Leicht wechselte er zwischen U und E, das heißt, zwischen der Unterhaltungsbühne und dem „seriösen“ Theater, zwischen den Gattungen, den erzählenden, den atmosphärischen, den handlungslosen Balletten, zwischen den Komponisten, zwischen Tanzstilen und Schrittvokabular, zwischen kompositorischen Verfahrensweisen. Als begnadeter Handwerker fand er stets jene Mittel, mit denen sich die Werkidee realisieren ließ. Dies galt nicht nur für die Broadwaybühnen, auf denen er in diesen Jahren verstärkt tätig war, sondern auch für seine Auseinandersetzung mit Strawinski. Robbins’ 1965 entstandene Sicht von „Les Noces“ entsprach der Singularität dieser Komposition.
Rückblickend hat es den Anschein, als ob Ende der Sechzigerjahre eine Zäsur Robbins’ Werk in zwei Teile teilte, als ob die fortan entstandenen Werke mit der Aura des „Altersweisen“ umgeben seien, ein Paradoxon, denkt man an die schon eingangs erwähnte Jugendlichkeit, die er sich bis zu seinem Tod bewahrt hatte. Mehr als früher schien Robbins sich jetzt mit dem Werk eines einzigen Komponisten beschäftigen zu wollen. Und fast will es scheinen, als ob die Wahl, sich mit dem Polen Frédéric Chopin auseinanderzusetzen, für Robbins, der auch polnische Wurzeln besaß, naheliegend war. Niemand konnte jedoch ahnen, was dieses Ballett – Robbins nannte es „Dances at a Gathering“– auslösen sollte! Als Jahrhundertballett gefeiert und später zudem als „piano ballet“ ausgewiesen – als Zeichen der Wertschätzung für die Musik stand das Klavier auf der Bühne und war gewissermaßen eine weiterer Partner der Tänzer –, tanzten fünf Paare von dem, was für Robbins als Essenz des Tanzens angesehen wurde: die Begegnung miteinander. Gleichzeitig getragen von dem elegischen Unterton der Mazurken Chopins wie von deren draufgängerischem Zest, wurde dieses Werk als die Verkörperung der Erwachsenenattribute „Ruhe, Reife und Besonnenheit“ gesehen.
Diesmal schloss Robbins Nachfolge-Ballette an: 1970 „In the Night“, 1976 „Other Dances“, für beide Ballette zog er wieder Piècen von Chopin heran. Zwischen dieser Beschäftigung mit Chopin war es aber zu völlig konträren Produktionen gekommen. 1971 waren die „Goldberg Variations“ (Musik: Johann Sebastian Bach) entstanden, ein Ballett, das wiederum wütende Proteste hervorrief, „Watermill“ (Musik: Teiji Ito) 1972 wurde als Essay über Langsamkeit der Bewegung gewertet. Auch beeinflusst von dem Tod seiner Mutter, schuf Robbins 1974 gemeinsam mit Bernstein „Dybbuk“. Diese letzte Zusammenarbeit der Beiden wurde allerdings kontrovers aufgenommen. Ungeteilte Zustimmung fanden jene Werke, die Robbins für die vom New York City Ballet veranstalteten großen Festivals kreierte: 1972 für das erste Strawinski-Festival, 1975 für das Ravel-Festival.
Die Idee, sich auf einen Altenteil zurückzuziehen – in welchem künstlerischen Umraum hätte sich der befinden sollen? –, war Robbins nie gekommen, am wenigstens zu dem Zeitpunkt als Balanchine starb. Zusammen mit Peter Martins übernahm er, der nominell immer nur der Zweite gewesen war, das New York City Ballet. „Cool“ und „classical“, so charakterisierte man Robbins nun, man beschrieb ihn auch als „abstrakten Denker, eingestimmt auf das Heute“. Als „cool“ und „classical“ wurden auch die 1983 entstandenen „Glass Pieces“ bezeichnet, eine Arbeit, in der er sich mit der unverwechselbaren Musik des Amerikaners Philip Glass auseinandersetze. Robbins begann zu reminiszieren: 1985 „In Memory of …“. Eine seiner letzten Arbeiten, 1988, war wiederum einem großen amerikanischen Komponisten – Charles Ives – gewidmet. 1989 schließlich wandte er sich nochmals dem Broadway zu, die Produktion wurde einfach „Jerome Robbins’ Broadway“ genannt. Robbins starb am 29. Juli 1998 in New York.
Bernstein-Legenden und Glücksmomente mit Robbins in Wien
Dass Orchester, Chor und Tänzer „wahre Wunder“ leisteten – Marcel Prawy, der ja die kontinental-europäische Erstaufführung der „West Side Story“ an der Wiener Volksoper betrieben hatte, empfand das so – ist leicht nachzuvollziehen, es verwundert insbesondere im Falle der Tänzer nicht. Denn das Volksopernballett – durch Produktionen wie „Kiss me, Kate“ (1956), „Wonderful Town“ (1956, worin auch die Staatsopern-Primaballerina Julia Drapal eine Rolle spielte) und „Annie Get Your Gun“ (1957) musicalversiert – vereinte unter seiner Ballettmeisterin Dia Luca jene Art von Ausführenden eines Theatertanzes, die gerade in Produktionen wie „West Side Story“ gebraucht wurden. Denn das Ballettensemble der Volksoper präsentierte sich als eine Vereinigung von Einzelpersönlichkeiten, die jeder/jede für sich eine Rolle auszuführen und auch zu „tragen“ vermochten. So waren in „West Side Story“ in verschiedensten Partien unter anderen Hedi Richter, Nives Stambuk (die in späteren Aufführungen auch die Anita gab), Melitta Ogrise, Elisabeth Stelzer, Christl Manz, Christa Maurer zu sehen. Eduard Djambazian verkörperte den Chino und war Alternativbesetzung des Bernardo, Gerhard Senft übernahm in einigen Vorstellungen den Riff. Die Inszenierung und die Einstudierung der Choreografie hatte Alan Johnson besorgt, der in der Film-Version von „West Side Story“ mitgewirkt hatte. Robbins wurde mit einem Extra-Vermerk bedacht: „Inszenierung und Choreographie der Originalproduktion sind eine Schöpfung von Jerome Robbins.“ Prawy konnte sich über einen Sensationserfolg freuen. An Bernstein telegrafiert er: „Sensational superenthusiastic sold out opening night.“ Auch der 1969 im Theater an der Wien erfolgten Produktion von „Fiddler on the Roof“ (unter dem Titel „Anatevka“) war größter Erfolg beschieden.
Das an amerikanischer Tanzklassik interessierte Wiener Publikum hatte sich schon bei diversen Gastspielen mit Robbins-Balletten vertraut machen können. Der 1953 erfolgte Besuch des American Ballet Theatre in der Volksoper hatte „Fancy Free“ und „Interplay“ (Musik: Morton Gould) gebracht, das bereits legendumwobene Auftreten des New York City Ballet 1956 in der Wiener Staatsoper machte dann mit „Pied Piper“ (Musik: Aaron Copland) und „Afternoon of a Faun (Musik: Claude Debussy) bekannt. Nach der Begegnung mit den Musicals war dann auch „Moves“ bei den Wiener Festwochen 1969 im Theater an der Wien in einer Aufführung des City Center Joffrey Ballet zu sehen.
Erst 1991 folgte dann die nächste Begegnung mit einem Robbins-Ballett: Bei der „Ballett-Gala“ tanzten Gäste in der Staatsoper „Other Dances“. Die Robbins-Ballette, die das Wiener Staatsballett tanzt, zeigen die so unterschiedlichen Werkkonzeptionen des Choreografen, wobei das eingesetzte Schrittvokabular ebenso betroffen ist wie der Aufbau des Werks. 2011 wurden die Ballette „Glass Pieces“, „In the Night“ und „The Concert“ unter dem Motto „Hommage an Jerome Robbins“ zusammengefasst. In „Glass Pieces“ wurden Ketten von Tänzerornamenten in den Sog der Minimal Music gezogen. „In the Night“ wiederum kann als Teil II von „Dances at a Gathering“ gesehen werden. Auf den ersten Blick eine bloße Weiterführung von Robbins’ Auseinandersetzung mit Chopin, mutet die Reihe von Pas de deux aber auch wie eine abendliche Intensivierung jener Beziehungen an, die in „Dances“ geknüpft wurden. Der Stimmung gemäß, ändert sich auch die Akzentuierung des immer klassisch grundierten Schrittvokabulars. Der nuancenreiche Charaktertanz in „Dances“ wendet sich zu eleganter Gesellschaftstanzmanier. „The Concert“ wiederum nimmt nicht nur das Verhalten von Konzertbesuchern aufs Korn, mit feinem Gespür ironisiert hier Robbins durch Überzeichnung die Essenz des in Amerika getanzten klassischen Repertoires. Dies gilt auch für „The Four Seasons“ (Musik: Giuseppe Verdi), das das Wiener Staatsballett seit 2015 tanzt. In diesem Ballett denkt Robbins noch weiter zurück: Unter vielem anderen erinnert er sich auch an das Duncan-Studium seiner Schwester und an ihre dementsprechende tänzerische Tätigkeit. Robbins’ diesbezüglichen Isadora Duncan-send-ups gehören zu den köstlichsten Kommentaren auf diese Tänzerin.
Doch zurück zu Bernstein und seiner Tanzaffinität. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass seine letzte Komposition dem Tanz gewidmet war. „Dance Suite“ (1990) war ein Auftragswerk für das 50-jährige Jubiläum des American Ballet Theatre. Dementsprechende Namen tragen die fünf Sätze der Suite: „Antony“ (Tudor), „Agnes“ (de Mille), „Misha“ (Michail Baryschnikow), „Mr. B.“ (George Balanchine) und „Jerry“ (Jerome Robbins). Bernstein starb am 14. Oktober 1990 in New York.
PS
Wenn in den rund um Jerome Robbins’ Jubiläum an der Volksoper Wien angesetzten Aufführungen der Erfolgsproduktion „Gypsy“ auch nicht mehr die originale Choreografie des Meisters zu sehen ist, so tritt doch auch in dieser Fassung aus dem Jahr 2017 die Genialität von Robbins’ Tanzdramaturgie zutage.