Maria Theresia – am 13. Mai 2017 jährte sich ihr Geburtstag zum 300. Mal – pflegte mit ihren Kindern nicht zimperlich umzugehen. Für Mitglieder regierender Häuser sei es Pflicht, so die Landesmutter, das Repertoire des Präsentierens zu beherrschen. Dazu gehörte ein ausgeklügelter Kanon von Verhaltensmustern und Körpergesten. Teil davon war der Tanz, der zur Zeit Maria Theresias die Abgrenzung von Gesellschafts- und Bühnentanz noch nicht ganz vollzogen hatte.
Das Spitzelnetz, das Maria Theresia um ihre Kinder, insbesondere um ihre Töchter knüpfte, war der Wichtigkeit ihrer (verheirateten) Positionen gemäß. Schon die hinter den Floskeln der Etikette spürbare Brutalität der Briefe, die die Mutter zum Beispiel an Marie Antoinette, die spätere Königin von Frankreich, schrieb, verblüfft: „Madame meine teuere Tochter“ – so lautete die „intime“ Anrede –, „ich bitte Sie, mir aufrichtig zu sagen, ob Sie besser tanzen als hier“. Gerade sie, die es „mehr als eine andere nötig hat“, müsse sich doch, so Maria Theresia, vervollkommnen, da Präsentation und somit auch der Tanz als Machtinstrumente galten. Es wäre daher nicht nur nötig, selbst gut zu tanzen, sondern seine Qualität auch erkennen zu können. In Wien habe sie ja „keine anderen Kenntnisse erworben, weder Musik noch Zeichnen, weder den Tanz und Malerei noch andere schöne Wissenschaften.“ Maria Theresia, die sich glücklich schätzte, die zu diesem Zeitpunkt (1770) 15-Jährige mit dem französischen Thronfolger verheiratet zu haben, belässt es aber nicht mit brieflichen Ermahnungen. Ihr sorgfältig instruiertes Spitzelnetz hatte auch zu berichten, welcher Art die Reaktionen der Abgekanzelten waren.
Abgesehen davon, dass in diesem Fall die Mutter für die Erziehung in den „schönen Wissenschaften“ selbst verantwortlich gewesen war, kann davon ausgegangen werden, dass sie in den 1771 geäußerten Briefstellen vorauseilende Übertreibungen für richtig befand. Denn immerhin war Maria Theresia ebenso wie ihre Kinder von den diversen „Hof-Tanzmeistern“ (in jenen Jahren waren dies Simon Pietro Levassori della Motta, Alexander Philebois, Franz Anton Hilverding und Jean Georges Noverre) offenbar dreimal wöchentlich dermaßen unterwiesen worden, dass man wiederholt und je nach Anzahl der Geschwister, das heißt in wachsender Besetzung, am Hof Vorstellungen geben konnte. Dies belegt ein bekanntes Gemälde, das Marie Antoinette höchst professionell tanzend zusammen mit zwei ihrer Brüder (Ferdinand und Maximilian) in einem Ballett zeigt, das anlässlich der Vermählung eines weiteren Bruders, Joseph, 1765 in Schönbrunn gegeben worden war. Die Choreografie dafür stammte von Hilverding, für dessen Wahl Maria Theresia wiederum selbst zuständig gewesen war. Nicht nur das Tanzen, auch das Malen erfreute sich übrigens in der Familie, den Kaiser mitinbegriffen, höchster Beliebtheit.
Maria Theresias Handeln entsprach der Zeit und ihrem Stand, es ist als Bestreben des Machterhalts zu verstehen. Dies galt jedoch nicht nur in politischer Hinsicht, sondern auch auf künstlerischem Gebiet. Diesbezüglich gelang es insbesondere im Genre des Musiktheaters und des Bühnentanzes eine Vorreiterposition in Europa zu erzielen. Ob das regelnde Eingreifen von Seiten Maria Theresias auf den eigenen Ehemann, Franz Stephan, zum gewünschten Erfolg führte, ist fraglich. Einer Legende nach, die sich in vielsagenden Anmerkungen ebenso wiederfindet wie in ganzen Romanen, habe Maria Theresia selbst Gefallen an einer Wiener Tänzerin namens Eva Maria Veigl (alternative Schreibweise: Veigel) gefunden. Dieses Gefallen an der 1724 Geborenen war derart, dass sie, wie es später hieß, „at the express command of her Sovereign“ und von der wienerischen Bezeichnung des Veilchens („Veigerl“) ausgehend, den Namen „Violette“ bekam. Als aber der sehr kunstbeflissene Franz Stephan der Tänzerin ebenfalls seine Aufmerksamkeit schenkte, verschaffte man dem vielversprechenden Talent kurzerhand ein Engagement in London. Dass dieses Engagement – freilich indirekt – erheblichen Einfluss auf die Wiener Tanzszene haben sollte, war einer der glücklichen Zufälle, aus denen sich die Wiener Tanzgeschichte zusammensetzt.
Hof-Tanzmeister und andere Kontaktpersonen
Die zunächst unglaubwürdig scheinende Nähe zwischen Maria Theresia und Eva Maria Veigl erklärt sich aus der Tanzfreudigkeit des Wiener Hofs, die derart war, dass sich der Hof-Tanzmeister sowie die engagierten Tänzer und Tänzerinnen in ständiger Umgebung der kaiserlichen Familie befanden. Ihnen oblag die Gestaltung der zahlreichen Hoffeste – Hochzeits- oder Geburtstagsfestlichkeiten, „Feste teatrali“ und Bälle sowie „Wirtschaften“, Festivitäten, wo hohe Herrschaften als „niedriges“ Volk auftraten. Ausführende waren Damen und Herren des Hofs selbst, dazu Berufstänzer und, erst seit den 1720er Jahren, Berufstänzerinnen. Auftrittsorte waren – neben dem „Großen Hoftheater“, das bis 1744 genutzt und dann in die Redoutensäle umgewandelt wurde – andere Räumlichkeiten in den kaiserlichen Schlössern, dazu Sommersitze wie Schönbrunn, die Favorita oder Laxenburg. Ab 1741 wurde der Hoftänzer Joseph Selliers, der Pächter des städtischen Kärntnertortheaters war, mit der Bespielung der Hoftheater sowie des zum Theater umgewandelten ehemaligen Ballhauses nächst der Burg betraut.
Mit einem „Tänzerpersonal“ von etwa 20 Personen (Stand 1740), mit einem Überhang an Tänzern und mit Hilverding als Leitfigur – seit 1737 ist er Hofballettmeister –, begann in Wien ein Entwicklungsprozess, der die Kunstgattung Ballett nicht nur aus dem Verband des Hofs, sondern auch aus dem des „Werkkorpus Oper“ herauszulösen versucht. Ziel ist es, ein eigenständiges (Handlungs-)Ballett zu kreieren und dieses als gleichberechtigtes Genre an die Seite der Oper stellen. Eva Maria Veigl, ab nun also Mlle Violette genannt, war nicht nur Zeugin, sondern auch aktiv Beteiligte dieses Prozesses. Das Ballettensemble hatte bislang zwischen den Opernakten zu eigens komponierter Musik oder in Divertissements zu tanzen. Dazu kamen in sich geschlossene, meist festliche Szenen innerhalb der Oper, die mit der Handlung nicht zwingend in Verbindung stehen mussten.
Bis zur Aufnahme des Spielbetriebs 1748 im umgebauten Theater nächst der Burg blieb das Kärntnertortheater das Haus, das alle Ballettgenres – das seriöse und das heitere – zu spielen hatte. Neben heroisch-mythologischen Werken, die bereits als erste Versuche eines eigenständigen Handlungsballetts gesehen werden (etwa „Britannicus“, „Idomeneus“), tanzte man Groteskes (spätere Titel waren etwa „Die Abenteuer in der Leopoldstadt“ oder „Frau Gevatterin, leih’ mir die Scher’“) und heitere Divertissements. Erwähnung findet Mlle Violette, die wohl dem gehobenen heiteren Tänzerfach angehörte, 1734 in Hilverdings „Amor und Psyche“. Aus dem kommenden Jahrzehnt, in dem sie dem Ensemble angehörte, ist kaum mehr bekannt als die Titel der aufgeführten Ballette. Als Tochter eines Bediensteten des Obersthofmeisters Graf von Paar, war sie schon früh in den Kreis „hoher Herrschaften“ gekommen, genannt wird die Hofdame Gräfin Eleonore Batthyány-Strattmann, dazu Prinz Eugen. Vermutlich von Hilverding ausgebildet, tanzte sie häufig in „privaten“ Häusern, bis es – auch dieses Datum ist ungewiss – zu der schon erwähnten „Abschiebung“ kam. Den Grund dafür erklärt George Frederick Beltz 1822: „The Empress Queen, perceiving that her husband, the Emperor, regarded Mademoiselle Violette with marked attention, to prevent any unpleasant circumstances proposed [a] journey to England, and forwarded powerful recommendations in her favour.” Mit Empfehlungen höchster Herrschaften segelt Mlle Violette also gegen England.
Hoftheater versus Commercial Theatre
Es ist anzunehmen, dass das zu dieser Zeit 22-jährige Fräulein Veigl, alias Mlle Violette, das als schön und klug, zurückhaltend und doch zielstrebig beschrieben wird, die Unterschiede im künstlerisch-gesellschaftlichen Klima zwischen den Städten Wien und London wahrnahm. Insbesondere das Theaterleben war grundlegend verschieden ausgerichtet. War Wiens „seriöse“ Theaterproduktion ganz dem Hof zugewandt und wurde umgekehrt vom Hof ständig kontrollierend beobachtet, so war Londons „Theaterluft“ von respektlosem Witz, brodelnder Rastlosigkeit, Brillanz und beißendem Spott erfüllt. Und anders als in Wien, wo man versuchte, Spielpläne ergänzend zueinander zu gestalten, befanden sich Londons Theater – ebenso wie die englischen Thronanwärter der Zeit – in ständig streitender Konkurrenz, was wiederum vollkommen Gegensätzliches entstehen ließ.
Innerhalb von nur 20 Jahren kamen „The Beggar’s Opera“ (dies mit riesigem finanziellen Erfolg) und Werke von Georg Friedrich Händel und Christoph Willibald Gluck heraus. Der Tanz nahm dabei zwar eine integrale Position ein, doch lässt sich erahnen, dass diese spätestens seit dem Wirken des Choreografen und Theoretikers John Weaver ab dem Beginn des Jahrhunderts sowie dem Londoner Auftreten der reformfreudigen Marie Sallé in den Dreißigerjahren bereits als verhandelbar galt.
Noch im Zeichen eines alten Selbstverständnisses einer Tänzerin, debütiert die Wienerin „unter dem Schutz“ von Herrschaften, deren hoher Stand der Protektionsgeberin Maria Theresia entspricht. Doch Mlle Violette wird nicht nur vom Earl of Burlington und seiner Frau protegiert, sondern ist auch Teil ihres Haushaltes, was wiederum Anlass für Gerüchte gibt. Vielleicht auch deswegen erhält Mlle Violettes Debüt „star billing“. Ab 1746 tanzt sie im King’s Theatre. Sie tut dies in Tänzen, die zwischen den Akten von Opern gegeben werden, dazu zählen „La caduta dei giganti“ und „Artamene“, die von keinem Geringeren als Gluck stammen, der offenbar noch größere Bewegung in die Opernszene Londons bringen sollte.
Mlle Violettes Erfolg wächst. Wohl als Vertreterin des hohen Fachs tanzt die Französin Mlle Anne Auretti an ihrer Seite, wobei Abbildungen stilistische Unterschiede vermuten lassen, wonach Mlle Auretti einen „alten“ Tanzstil verkörperte, Mlle Violette jedoch bereits von „der Seele bewegt“ tanzte. Schon hier scheint der italienische demi-caractère Tänzer Giuseppe Salomone Mlle Violettes Partner und Choreograf ihrer Tänze gewesen zu sein. (Ab den Fünfzigerjahren wirkte „Joseph“ Salomone in Wien als „Theatraltanzmeister“.)
Mlle Violette tanzt weiter en suite, ihr Bekanntheitsgrad steigt, sie erringt die Aufmerksamkeit führender Persönlichkeiten der Stadt, sie wird als „erste Tänzerin der Welt, exquisit und unverwechselbar“ bezeichnet. Zwistigkeiten lassen sie das King’s Theatre verlassen. Nach verschiedenen Auftritten debütiert sie im Dezember 1746 im Drury Lane Theatre. Sie betritt damit das Reich der Ausnahmegestalt David Garrick, ein Schauspieler, der zu den am meisten gefeierten Persönlichkeiten der gesamten Theatergeschichte gehört. Ob Garrick selbst bereits für das Engagement zuständig war – er spielte in diesem Jahr in Covent Garden und kaufte das Drury Lane Theatre erst 1747 – ist nicht bekannt.
Mit Salomone, der ebenfalls das Theater gewechselt hatte, tanzt Mlle Violette nun ein von ihm erstelltes Repertoire – offenbar ausschließlich Divertissements –, das sehr an jenes in Wien erinnert: Auf „The German Camp“ und „The Vintage“ im Dezember 1746 folgt zum Jahreswechsel eine weiteres „wienerisches“ Thema: „The Turkish Pirate; or a descent on the Grecian Coast“. Einem Skandal kommt die Tatsache gleich, dass Mlle Violette die Avancen des Prince of Wales – er tut dies insofern geschickt, als er mit sich selbst auch seinen Tanzmeister zur Weiterbildung anbietet – zurückweist. Dann wieder bleibt sie einer „Royal-Command“-Vorstellung fern oder verursacht lautstarken Protest, weil sie weniger als vereinbart ausführt, was aber ihren Bekanntheitsgrad nur noch weiter steigert. Im Januar 1747 tanzt sie in einem „serious pastoral ballet. „Excellent“ sei, so die Presse, kaum ein ausreichendes Wort, das Mlle Violettes Tanz wiedergibt, etwa in einem Pas de trois, den sie zusammen mit Salomone und Cook (einem Tänzer um Marie Sallé) ausführt. Am 11. Februar ist sie Star einer weiteren „Royal-Command“-Vorstellung, die, außergewöhnlich, gleichzeitig als Benefiz für sie gegeben wurde. Nunmehr bloß als „Violette“ angekündigt, macht sie mit einem Holzschuhtanz auch Ausflüge ins Charakterfach. Violettes Karriere hat bald einen Status erreicht, der auch Molesten mit sich bringt. Nur mit Mühe gelingt es der Countess Burlington, die Menge der Verehrer in Schach zu halten. Nach längerem Zögern willigt man schließlich in die Heirat (22. Juni 1749) der Wienerin mit dem englischen Schauspieler David Garrick ein.
Double Pas de trois
Der Konvention der Zeit gemäß, zog sich Violette nach ihrer Heirat von der Bühne zurück, was aber nicht den Rückzug von Mrs David Garrick aus dem Blickpunkt der Öffentlichkeit bedeutete. Im Gegenteil. Dank ihrer Aura – Größen wie William Hogarth, Joshua Reynolds und Thomas Gainsborough haben sie gemalt – wurde sie zum Mittelpunkt jenes Künstlerkreises, den Garrick um sich bildete. Und nicht nur dies: „Maria“, wie Garrick sie nannte, verstand es, sich ihren Nimbus als ernsthafte Vertreterin einer Kunstform derart zu bewahren, dass sie, insbesondere für den damals ständig in Gang befindlichen theoretischen Diskurs über Tanz zur Bezugsperson aufsteigt. Durch sie kommen – so eine These – Körperkunst und Körperwahrnehmung, Themen, über die Garrick schon längst schauspielend reflektiert, nicht nur in noch größerem Maß in die Diskussion, sondern sie werden nun auch von anderen Künsten ganz bewusst mitgedacht. Einerseits wird, vom Tanz ausgehend, Malerei und Schauspielkunst in Überlegungen miteinbezogen, andererseits bereichert Tanz die theoretische Auseinandersetzung mit Malerei. Inspiriert durch den Garrick-Kreis und Eva Maria Veigl als eigene (Tanz-)Größe, kommt es im London der Fünfzigerjahre zu einem auf geistiger Ebene ausgeführten „doppelten Pas de trois“, wobei das Ehepaar Garrick gleichbleibender Beteiligter ist. Die jeweils dritte Person ist einerseits Hogarth, andererseits Noverre. Die Besetzungen dieser Pas de trois lauten also: Veigl, Garrick und Hogarth beziehungsweise Veigl, Garrick und Noverre, der zu dieser Zeit in London engagiert ist. Ergebnisse dieser gemeinschaftlichen tänzerischen (Ideen-)Konstellationen sind Hogarths „The Analysis of Beauty“ (1753) und Noverres „Lettres sur la Danse et les Ballets“ (1760), beides Schriften, die sich durch die Erweiterung des Blicks auf eine jeweils andere Kunstgattung auszeichnen. Im Fall Hogarth ist das der Tanz, bei Noverre die Malerei.
Hogarths graphisches Schaffen – sein Werk ist insbesondere durch diverse Kupferstichzyklen, etwa „The Rake’s Progress“, auch heute sehr präsent – ist von gezielter Häme, in gleichem Maß aber von großer Bewegung gekennzeichnet. Diese körperlich schier greifbare Lebendigkeit inspirierte nicht erst Ninette de Valois zu einem Ballett und Igor Strawinski zu einer Oper, sondern veranlasste offenbar schon Noverre zur Forderung, ein Choreograf habe vor allem „Maler“ zu sein. (Mit Carle van Loo und François Boucher nannte Noverre dabei aktuelle Maler der Zeit, die sich der Gesellschaft und mithin auch berühmten Tänzerinnen zuwandten.) Hogarth wiederum geht in seinen Betrachtungen von einer körperlichen Idealhaltung eines „S“ aus. Er meint unter anderem, das Menuett sei deswegen als exemplarisch anzusehen, weil es die größte „zusammengesetzte Mannigfaltigkeit so vieler Bewegungen“ von eben dieser „S“-Linie darstellt. Darüber hinaus sei es diese – auf den Tanzbühnen meist zu einem „Z“ begradigte – Linie, die man beim Tanzen auf dem Fußboden beschreibt. Und Hogarth, dessen Schrift des Öfteren als zu praxisbezogen kritisiert wird, demonstriert zeichnend, wie die Proportionen eines Körpers zu sein haben, um „richtig“ tanzen zu können. Er tut dies an Hand einer langen Reihe von Paaren, von denen nur das erste die geforderten körperlichen Voraussetzungen mitbringt.
Die Londoner Utopien auf der Ballettbühne Wiens
„No French dancers!“ schrie die Menge im Garricks Dury Lane Theatre just als Noverre 1755 dort eines seiner Pariser Erfolgsballette, „Les Fêtes chinoises“, herausbrachte. (Die Wiener Aufführung dieses Balletts 1772 regte den nüchternen Joseph II. zu einem nicht gerade wohlmeinenden Kommentar an.) Die schweren Ausschreitungen in London waren Reaktionen auf Allianzen, für die auch Maria Theresia verantwortlich war: Ihr Reich hatte sich mit Frankreich und Russland zusammengeschlossen, auf der Gegenseite standen England und Preußen. Noverre wusste die politisch erzwungene Pause schreibend zu nutzen. In Lyon nämlich, seinem nächsten Engagement, brachte er – auch als Produkt der Londoner Diskussionen – seine „Lettres“ heraus. Stuttgart, mehr noch Wien, wohin er erstmals 1767 geht, sind nun jene Städte, wo sich das realisieren ließ, was er – auch die Garricks im Blick – schriftlich formuliert hatte. Die Forderungen der Zeit summierend – neue ausdrucksstarke Darstellungsmittel in neuen (Handlungs-)Räumen –, legt er diese auf sein Genre, das Ballett, um. Die neue „Beredsamkeit des Körpers“, eine von „innen kommende Wahrheit“, wurde der nunmehr als bloße Äußerlichkeit empfundenen „Schönheit“ entgegengestellt. Ein konzis organisiertes Handlungsballett lasse sich von einer in bewegter Aktion befindlichen Körperkunst – eben „en action“ – weit überzeugender ausdrücken, als durch die Sprache. „Sprechende“ Musik müsste als neues Mittel noch dazu kommen.
Seit dem Weggang von Mlle Violette vor fast 20 Jahren hatte das Ballett in Wien – noch immer unter strenger Beobachtung Maria Theresias – einen wahren Paradigmenwechsel durchlebt. Gasparo Angiolini hatte den von Hilverding eingeleiteten Reformprozess – zusammen mit Gluck – zu überzeugenden Ergebnissen geführt. Glucks Ballett „Don Juan“ (1761) und seine Oper „Orfeo ed Euridice“ (1762) waren entstanden, Arbeiten, die für den Komponisten insofern „eine Art von Experimentierfeld“ (Sibylle Dahms) bedeuteten, als er die musikalische Sprache für die tänzerische Aktion gleichsam gestisch vorgeformt hatte. Themen der straff erzählten „azione“ waren menschliche Gefühle sowie die sich daraus ergebende Seelenbewegung. Die neue „körperbetonte Dynamik“ galt es nun auch auf die Tanzbühne zu bringen. Noverre gelang dies, sehr zum Gefallen der Herrscherin, offenbar sehr gut. Aber ihm gelang noch mehr: Bis dahin eher aus virtuosen Einzelteilen beliebig zusammengestellt, wurde Ballett nun zu einem logischen Ganzen, für das ein einziger Künstler verantwortlich war. Dies hatte Noverre vielleicht auch von Garrick übernommen, war es doch konform mit dessen Verzicht auf die Praxis der Aneinanderreihung von virtuosen Monologen, wie dies besonders bei Shakespeare-Aufführungen üblich gewesen war. Darüber hinaus gelang es Noverre, die zusehenden Bürger aus der reglementierten Umklammerung einer höfischen Ordnung herauszulösen und sie zu eigenständig Rezipierenden werden zu lassen. Eva König nach, der späteren Ehefrau von Gotthold Ephraim Lessing, der ja in einem Naheverhältnis zu den „Lettres“ stand, riefen die Zuschauer „eine Viertelstunde lang ‚Noverre, Noverre!‘“ Dies alles sei, sehr verwunderlich, „in Gegenwart des Kaisers“ geschehen. War in London also noch eine Tänzerin, Mlle Violette, Star der Ballettszene gewesen, so war es nun der Choreograf.
Als Noverre sich nach den Wiener Erfolgen veränderte, wandte er sich, ausgestattet mit einem Empfehlungsschreiben Maria Theresias, nach Paris. Dieses Schreiben richtete die Mutter nicht etwa an „Madame meine teuere Tochter“, die seit 1774 Königin von Frankreich war, sondern an den treuen „Spitzel“ Mercy-Argenteau. Wäre es ihm möglich, mit der Königin zu „Noverres Gunsten“ zu sprechen? Die Königin erinnere sich wahrscheinlich an seinen Unterricht, „obwohl sie hier nicht viel davon profitierte, was mich schon damals an ihrer Aufmerksamkeit für wichtigere Gegenstände, auf Grund mangelnder Konzentration, zweifeln ließ.“ Der Witwenstand hatte Maria Theresia nicht milder werden lassen. Diesen Stand teilte sie in ihrem letzten Lebensjahr mit dem „Veigerl“, jener Tänzerin also, die sie, einer Legende nach, aus Wien hatte entfernen lassen. Die jeweiligen letzten Ruhestätten gleichen übrigens in ihrer Würde einander: die Kapuzinergruft der Habsburger und der Poets’ Corner in der Westminster Abbey, in der die 1822 – 42 Jahre nach dem Tod Maria Theresias – gestorbene Eva Maria Veigl an der Seite ihres Mannes bestattet ist.