Angesichts des ungemein eindrucksvollen „Bewegungstheaters“, das heute auf Sprechbühnen zu sehen ist und das in auffallendem Kontrast zur zeitgenössischen Tanzszene steht, die oft den Körper in Form von Denkfiguren an den Kopf delegiert und Bewegung dem Nichts überlässt, erinnert man sich an die vielfach dokumentierte Körperkunst des Johann Nestroy. Die festgehaltenen Rollenbilder und Kommentare der Zeit bezeugen nämlich, dass man sich denkend durchaus geformt, dazu auch körperlich ausdruckskräftig bewegen kann.
Heute herrscht allgemeiner Konsens darüber, dass Johann Nestroy (1801–1862) den wichtigsten österreichischen Dramatikern zuzurechnen ist, wobei zu ergänzen wäre, dass man offenbar erst in den letzten Jahrzehnten dazu übergegangen ist, in den Inszenierungen seiner Stücke auf jene verbindliche „biedersinnliche Gemütlichkeit“ (Nestroy) zu verzichten, die sich in der Praxis breitgemacht hatte. (Dass Nestroys Werk auch schon bei seiner Uraufführung – den Aufführungstheatern gemäß – als bloßes „g’spaßiges“ Volkstheater“ verstanden wurde, kann nicht übersehen werden. Die jährlich abgehaltenen „Internationalen Nestroy-Gespräche“ in Schwechat, dazu manche aktuelle Aufführungen belegen das Bestreben, dem entgegen zu wirken.) Ebenso herrscht Konsens darüber, dass Nestroy zu den herausragenden Schauspielerpersönlichkeiten des Landes gehört. Vom hohen Einsatz des Körpers und der Bewegung im Unterhaltungstheater seiner Zeit ausgehend, ist Nestroy – auch – als Körperkünstler zu sehen, der an die Seite der Virtuosität der Sprache und des Sprechens jene des Körpers stellte. Von der Warte der Tanzhistorikerin ist Nestroy aber weit mehr: Als „Schöpferinterpret“, das heißt also als Interpret eigener Kreationen, erfüllt er nämlich das wesentlichste Kriterium des – freilich erst später entstandenen – Modernen Tanzes. Der zeitlichen Inkongruenz zum Trotz, könnte Nestroy – etwas überspitz formuliert – als früher Vertreter des Modernen Tanzes, genauer und seinem Schauspielfach als Charakterdarsteller gemäß, als Grotesktänzer angesehen werden.
„In derbst grotesker Maske …“
Als Nestroy in den frühen Dreißigerjahren als Schauspieler im Wiener Vorstadttheater aufzutreten begann, fand die Drastik seines Spielstils sofort – negative – Beachtung. Sein sehr bewegtes groteskes Spiel verletzte offenbar ein bis dahin gepflegtes Regelwerk in so hohem Maß, dass – mit Nestroy als Protagonist – fast von einer Epochenwende im Spielstil die Rede sein kann. Dieser Spielstil „in derbst grotesker Maske und carikirtester Ausführung“ wurde meist sogar als „sehr unanständig“ angesehen“, er verstieße sogar „gegen die öffentliche Sittlichkeit“. Dies vor allem darum, weil Nestroy „nur zu oft die harmlosesten Worte durch sein Mienen- und Händespiel zur gemeinsten Zote“ werden lasse. Das heißt, Nestroy gab nicht nur Texte von sich, sondern ließ darüber hinaus und unabhängig davon, auch seinen Körper sprechen. Dies derart, dass er sich, ganz bewusst, außerhalb jenes spartenübergreifenden Regelwerks stellte, das für das Darstellerhandwerk und dessen Ästhetik nicht nur dieser Zeit verbindlich war.
Nestroys Spiel baute, wie das aller Schauspieler, Sänger und Tänzer, auf einem überlieferten „Fächerkanon“: Zum „hohen“ und „komischen“ Fach, das sich wieder in ein „hoch-komisches“ und ein „niedrig-komisches“ teilt, kam das „Charakterfach“, das, weiter intensiviert, zum „Groteskfach“ wurde. Dieser Fächerkanon hatte sich aus den Gegebenheiten des Körpers, seinem Bau, seinen Proportionen und den diesen Gegebenheiten innewohnenden Bewegungsmöglichkeiten entwickelt. Die Tatsache, dass dieser Fächerkanon mit seinen Nuancen auch heute noch auf der Ballettbühne zu sehen ist, macht es leicht, sich darstellerische Mittel früherer Jahrhunderte, also auch der Nestroyzeit, vorzustellen. Der Fächerkanon erstellte auch das Personengerüst für das Unterhaltungstheater, das, mit Darstellerfächern spielend, sich direkt an das Publikum wandte. Mehr als dies im „Hochtheater“ üblich war, mit dem das Wiener Unterhaltungstheater in engstem Dialog stand, war es die Körperlichkeit der Agierenden, die zuallererst wahrgenommen wurde. Körperwuchs, Bewegungsduktus, dazu das Kostüm, gaben sofort über die dargestellte Rolle Auskunft. Man bewegte sich fach-, geschlechts- und standesgemäß mittels eines dem Körpertyp entsprechenden Bewegungskonzepts. „Hoch, schlank, etwas vorgebeugt, eckig in jeder Bewegung“, hatte Nestroy offenbar für viele Rollen solch ein Bewegungskonzept erarbeitet.
Die komischen Wirkungen des Unterhaltungstheaters entstanden durch Übersteigerung oder Konterkarieren des Fächerkanons, durch Demontage oder bewusst „falschem“ Einsatz, dazu durch „falsche körperliche Intonierung“. Für Schauspieler, Sänger und Tänzer hieß das bewegungstechnisch: „regelwidriger“ Einsatz von Körperachsen, von Bewegungsebenen sowie Spielen mit dem Körperschwerpunkt. Komische Effekte wurden durch asymmetrisch geführten Körper, Kontraktionen, Torsionen, aber auch durch „falsche“ Dynamik und „falsches“ Tempo erzielt. Dies galt für die Soloarbeit, also auch für Nestroy selbst, ebenso wie für Figurenkonfigurationen, wobei Körperkontraste wie groß / klein, dick / dünn, jung / alt eingesetzt wurden. Von fächerbedingten Grundkonstellationen ausgehend, arbeitete Nestroy – immer auch mit sich selbst als Protagonist im Blick – mit einem Typenfundus und einem Reservoir von Bewegungssituationen, Konfigurationen und in sich geschlossenen kleinen Szenen. Dieser austauschbare Fundus ließ Improvisationen, aber auch zusätzliche Bauteile zu.
An sich schon bewegungsorientiert, räumte das Theater Nestroys dem Tanz sowohl breiten Raum wie dramaturgische Funktion ein. Die immer wieder herangezogenen Tanzformen waren Volks- und Gesellschaftstanz, für deren Ausführung oft „Tanzgeräte“ wie Schals, Schleier, Schirme oder Fächer herangezogen wurden. Neben den aktuellen Gesellschaftstänzen ist in den Nestroy-Stücken auch – meist in karikierter Form – Ballett zu finden, das von den Schauspielern, die ja meist auch ausgebildete Tänzer waren, ausgeführt wurde.
Der Schauspieler Nestroy ging nun nicht nur virtuos mit den genannten Mitteln um, sondern rückte seine körpereigenen grotesken Bewegungsmittel, vom äußeren Rand des Fächerkanons, wo sie der Tradition nach angesiedelt waren, in den Blickpunkt des Geschehens. Die Irritation folgte auf dem Fuß: „Herrn Nestroy’s Übertreibungen der bloßen Erscheinung“, so ein Rezensent, würden eher befremden als zum Lachen anregen. Er übersteigere alles „bis zum Zerrbilde“, worüber dann doch zu lachen war, „auch wenn sie in körperlicher und geistiger Hinsicht befremdende Unformen sind.“ Und mehr noch: Nestroys Wille zu Provokation war derart, dass er den eigenen Körper – immer mit der Groteske spielend – gleichsam „durchgehen“ ließ. Er überließ seine Virtuosität – freilich spielerisch – gleichsam sich selbst, um körperlich zu extemporieren. Unbeeindruckt von Warnungen trieb Nestroy seinen „Tanz“ so weit, dass dies nicht nur Arrest, sondern auch die Kündigung des Engagements mit sich brachte. Zuweilen hatte es den Anschein als ob der Grad der körperlichen Aggression, die mit Nestroys brillanten Wortkaskaden Hand in Hand ging, sich mäßigte. „Das zwecklos Häßliche, das Gemeine, das diabolisch Nichtige liegt hinter ihm“, so hoffte man schon 1844. Doch Nestroys „Tanz“ änderte sich nicht, im Gegenteil. Man meinte sogar, dass „seine Gestalt“ einer „Volksclasse“ angehöre, „wie sie nicht füglich mit Anstand auf die Bühne gebracht werden kann.“ Er betreibe eine „tiefe und giftige Demoralisirung“ des Volkes, schrieben die einen, andere meinten wieder, er gestalte aus „seltener Kenntniß des wirklichen Lebens“. „Jede seiner Bewegungen ist drastisch“ schrieb ein Rezensent, jedoch: „Der Geist in seinen Gebilden ist aber durchaus ein moderner.“ Plötzlich fühle man sich vom „Hauche des Zeitgeists“ angeweht. Wiewohl Nestroys „Ausmalungen“ noch immer als „grell“ empfunden wurden, erkenne man aber „naturwahre Konturen.“
„Das Publikum explodierte, schrie, pfiff, jubelte“
Versetzt man sich von dieser schon um 1860 in Wien verspürten Moderne in die Tanzmoderne einer neuen Zeit, wird man auf der Suche nach Persönlichkeiten, deren Abbilder jene körperliche Ausdruckskraft vermitteln wie die des „Grotesktänzers Nestroy“, erst nach einem Geschlechtertausch und einem Wechsel des Schauplatzes fündig. Dies tut der Sache keinen Abbruch, im Gegenteil. Der Geschlechtertausch nämlich war nicht nur ein wesentlicher Baustein des Theaters Nestroys, sondern auch der extremen Tanzbühne der Zwanzigerjahre. Und Berlin, wohin jetzt zu blicken ist, kann auch als Außenstelle der Wiener Theaterelite gesehen werden.
Eine diese extremen Persönlichkeiten war Valeska Gert (1892–1978). Sie selbst beschreibt ihren ersten Auftritt („Tanz in Orange“, 1916) wie folgt: „Mit Riesenschritten stürmte ich quer über das Podium, die Arme schlenkerten wie ein großes Pendel, die Hände spreizten sich, das Gesicht verzerrte sich zu frechen Grimassen. (…) Das Publikum explodierte, schrie, pfiff, jubelte. Ich zog, frech grinsend, ab.“ Gert wurde in weiterer Folge als „Tanzkarikaturistin“ bezeichnet, die weder Handlungen, Impressionen oder Gemüts- und Seelenzustände tanzte, sondern (oft in einem Berliner „Tanzdialekt“ gehaltene) „Parodien“ davon. „Ihre Karikatur“, fand Oskar Bie, „kommt aus dem Charakter einer phänomenalen Darstellungskunst.“ (Man kann davon ausgehen, dass ihr 1921 auch in Wien gezeigter Tanz „Alt-Wien“ zu einem Strauß-Walzer bar jeder Gemütlichkeit war, wiewohl er einem Kritiker „ein feines Lächeln“ entlockte: „Federnd, als kennen Leib und Beine keine Gesetze der Schwere, gehorchte der Körper dem inneren Schwingen.“)
Kommentare zu Gert beschreiben nicht nur ihre Auftritte in ausgezeichneter Weise, sie nennen gleichzeitig auch viele jener Charakteristika, die für das Theater des Johann Nestroy konstitutiv sind: Zum einen die enge Verbundenheit mit einer Stadt, zum zweiten das Spiel für ein ganz bestimmtes Publikum, das Extreme gleichsam herausforderte. Diese Extreme bezogen sich bei Nestroy nicht nur auf die Sprache sowie die Art und Weise ihrer Vermittlung, sondern auch auf den Körper – all dies in ganz bewusster, oft karikierender Übersteigerung geboten. Das Extreme der Gert betraf die körperliche Darbietung allein. In einem Punkt unterschieden sich die beiden Theater klar voneinander: Nestroy agierte also aus einer Virtuosität heraus, die die Sprache, das Sprechen und die körperliche Aktion betraf, Gert aus dem Willen zur körperlichen Aktion, der von der Opposition gegen das Tradierte geprägt war. Bewusst ging sie nicht vom Überlieferten, sondern von den eigenen körperlichen Voraussetzungen aus. Diese waren auch bei Nestroy von größter Bedeutung, der Einsatz der eigenen Körpergegebenheiten bildete jedoch – verquickt mit dem Tradierten – das Unverwechselbare, mit dem er den Kanon eines Schauspielfaches krönte. Was überraschen muss: den unterschiedlichen Gegebenheiten stehen ganz ähnliche Erscheinungsbilder gegenüber. Das Publikum bejubelte die aus „aggressivem Potenzial“ gestaltete Groteske oder zischte sie nieder.
Was bleibt, ist die eingangs erwähnte Behauptung aufzugreifen, die zeitgenössische Tanzszene delegiere Bewegung in Form von Denkfiguren an den Kopf und überließe dem Körper jener Hülle, in der er sich durch Geburt und Wachstum eben befindet. Dazu käme die Frage, was dies denn mit den Theatern Nestroys oder Gerts zu tun hätte. Eine von vielen Antworten wäre: das, was die drei so verschiedenen Formen des Bewegungstheaters unterscheidet, ist die Beschaffenheit der Virtuosität. Nestroys Virtuosität der Sprache, des Sprechens und des Körpers steht nach einer Jahrhundertwende Gerts Virtuosität der „Hässlichkeit“ gegenüber. Nach einer neuerlichen Jahrhundertwende haben wir es in der zeitgenössischen Tanzszene erneut mit Virtuosität zu tun, diese scheint sich jedoch auf die Konzeption des Werks zu beschränken. Der brillanten gedanklichen Ebene steht oft ein Nichts an Bewegung gegenüber, das aber vielleicht als extremster Grad der Verdichtung von Virtuosität gesehen werden kann.