Wenn am 28. November 2015 Volkstanzscharen dem Palais Ferstel zustreben, um beim 66. Wiener Kathreintanz der Arbeitsgemeinschaft Volkstanz Wien ihr Tanzjahr, das traditionsgemäß vor Beginn des Advents endet, ausklingen zu lassen, wird wohl kaum jemand von ihnen diese Veranstaltung mit jener Vorstellungsserie des Wiener Staatsballetts in Zusammenhang bringen, die just am selben Abend (und am anderen Ende der Straße) beginnt: die Rede ist von Frederick Ashtons „La Fille mal gardée“. Die Verbindung beider Ereignisse ist die „Idee Volkstanz“.
So eng die Verwandtschaft zwischen Volkstanz und ausgedehnten Passagen des Ballettklassikers „La Fille mal gardée“ auch ist, die beiden „Lager“, das heißt Vertreter des Volkstanzes einerseits und des klassischen Tanzes andererseits, würden auf die Einladung, das jeweils andere zu besuchen, verständnislos reagieren. Mehr noch: Man würde sich in keiner Weise im Gegenüber wiederfinden. Und tatsächlich: Eine erste und unvorbereitete Begegnung würde wohl mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zu Tage fördern. Zunächst ideell: Fühlen sich die Volkstänzer ganz bewusst der Idee eines „Landlebens“ verbunden, das das (vermeintlich) Gewachsene „pflegt“, so sehen sich Publikum und Ausführende des Bühnentanzes als Repräsentanten eines gedachten – städtischen – Gegenpols, der aber ebenfalls Tradiertem huldigt. Auf die respektiven Tanzböden übersetzt, heißt das: Den für sich und der Sache willen Ausführenden des Volkstanzes, die sich selbst als „natürlich“ wahrnehmen, stehen die in einem künstlichen Ambiente sich präsentierenden klassischen Tänzerinnen und Tänzer gegenüber, die einem Publikum ihre Ausprägung des Volkstanzes darbieten. Wobei dieser – für den Bühnengebrauch zugerichtet – vielleicht von den Verschworenen des Kathreintanz-Lagers als solcher gar nicht mehr erkannt wird.
Und doch: Ein eingehender Blick auf den Volkstanz und seine „Pflege“ sowie das im Ballett „tradierte“ ländliche Tanzgenre offenbart – wie das in „La Fille mal gardée“ eben der Fall ist – weit mehr als ein und dieselbe Basis. Aufschlussreich bei einem solchen Vergleich ist die Auseinandersetzung mit der viel diskutierten, von Waltraud Froihofer edierten Publikation „Volkstanz zwischen den Zeiten“ (2011), die sich in kritischer Weise mit dem Volkstanz beschäftigt. Aus diesem Buch ist – freilich indirekt – herauszulesen, wie ähnlich Strategien, Strukturen und Verfahrensweise Volkstanz wie Ballett betreffend sind.
Volkstanz versus Ballett? Mehr Gemeinsames als Trennendes!
Mit der erwähnten Basis ist schon die erste Gemeinsamkeit genannt, in beiden Fällen steht der Wunsch, „seine“ Sicht eines idyllischen Landlebens zu zeigen. Der Gemeinsamkeiten sind aber weit mehr. Für beide Lager bedeutet Tanz – jeweils anders akzentuiert – „Aufgabe“ und „Gesinnung“, wobei die beiden Tanzformen, gemäß dem Gedankengut aus dem sie herauswuchsen, in unterschiedlicher Weise Ideologien transportieren. Teil der Gesinnung ist hier wie dort „Tradierung“ und „Pflege“, wobei man, beim Volkstanz wie beim Ballett, trachtet, das Tradierte als „echt“, „authentisch“, „original“ und „unverfälscht“ zu bewahren. Das Alter der Formen – die von Städtern aufs Land getragene „Idee Volkstanz“ ist etwa 150 Jahre, jene des „klassischen Tanzes“ mehr als doppelt so alt – spielt dabei kaum eine Rolle, denn es kann gelten, so Wolfgang Dreier, „dass kulturell determinierte Ausdrucksformen einem ständigen Wandel unterworfen waren und sind, die Konstruktion eines wie immer gearteten ‚Urzustandes‘ daher aus wissenschaftlicher Sicht nicht adäquat erscheint.“
Die Idee von Gemeinschaft und Zusammengehörigkeitsgefühl ist ein weiterer für beide Tanzformen gültiger Aspekt. Hier wie dort geht es um ein Kollektiv, das in einer imaginierten „Heimat“ verankert ist. Diese wird allerdings grundverschieden verstanden. Schwebt über der Gemeinschaft der Volkstanzenden der Begriff „Heimat“, die sich geographisch an einem ganz bestimmten Ort festmachen lässt, versteht sich die Bühnentanzgemeinschaft durch die „Idee Ballett“ einem Ensemble zugehörig, dessen (künstlerische) Heimat Ballettsaal und Bühne sind. Diese können sich überall auf der Welt befinden.
Für beide Lager ist „innere Haltung“ von größter Bedeutung. Während der Volkstanz diese, gekennzeichnet durch die Prämissen „moralischer, ethnischer, nationaler Wert“, ganz bewusst nach außen zur Schau stellt und dabei körperlich womöglich als „Volksseele“ agiert, versteht der Bühnentanz Haltung buchstäblich. Man konzentriert sich auf den kodifizierten Körper und präsentiert mit ihm als Ausdrucksmittel die Anliegen des Choreographen.
Die jeweils angestrebte „tänzerische Muttersprache“ hat hier wie dort entschieden andere Bedeutung. Während man beim Volkstanz davon ausgeht, ein Landschaftstyp präge den Körper und somit seine Bewegungen, sind es – so eine der Grundlagen des Balletts – die in verschiedenen Ausprägungen existierenden Köpertypen an sich, die durch ihren Bau und ihre Körperproportionen jeweilige Bewegungsarten vorgeben. Diese „körpereigene Sprache“ ließ eigene „Tänzerfächer“, eigene Genres mit unverwechselbarem Bewegungsrepertoire entstehen. Dazu gehört auch ein „nationales“ Fach, unter dem die Pflege „nationalen“ Tanzes, das heißt, bühnenmäßig geformter Tanz bestimmter Regionen und Länder, verstanden wird. Dieses Fach ist seit der Existenz der Kunstgattung integraler Bestandteil der „Ordnung Ballett“, die sich aus dem ständigen Dialog mit den Tänzen des Adels und der Bürger entwickelt hat. Gesellschafts- und Volkstanz wurden zum Reservoir, aus dem man gerade zu Beginn des 19. Jahrhunderts ständig schöpfte. „Nationales“ kam beim Ballett also nur in Bezug auf „nationale“ Tänze auf.
Was das Geschlechterverhältnis betrifft, gibt der Volkstanz vor, gleichberechtigt zu agieren. Demgegenüber ist das Ballettensemble klar hierarchisch geordnet, wobei der Aufführungstradition gemäß der Tänzerin eine dominierende Rolle zugeteilt wird. Die beim Volkstanz vorhandene Forderung nach gleicher Bewegung, gleichem Gesichtsausdruck, sowie gleich gehaltenem Rhythmus, existiert beim Ballett, wenn das Werk es erfordert.
Konstruktion I: Kathreintanz
1934 wird als das Jahr des ersten Wiener Kathreintanzes genannt (Schauplatz war das legendäre „Grand Etablissement Stalehner in Hernals). Dieser fand also in zeitlicher Nähe zum „Internationalen Volkstanztreffen Wien 1934“ statt. In diesen Jahren gab es – neben Raimund Zoders „Urania-Volkstanzkreis“ aus den Zwanzigerjahren – auch andere städtische Ausprägungen von Volkstanz, jene nämlich, die aus der Bewegung des neuen Freien Tanzes erwachsen waren. Drei verschiedene Stränge wären hier zu unterscheiden: Erstens jener von der Bewegung des „Laientanzes“ ausgehend, zweitens jener, der die Idee einer „freien“ Interpretation des Volkstanzes verfolgte, und drittens jener, der Volkstanz als Reservoir verstand, aus dem die Avantgarde zu schöpfen wusste. Heute bleibt es – lässt man einmal das Kapitel „Wechselwirkung zwischen Sommerfrischler und Landleben“ außen vor –, darüber nachzudenken, warum man speziell im Grenzbereich zwischen den Ständen und den Wiener Vorstädten und Vororten nicht eigenen hier verwurzeltem Tanz pflegte, sondern danach strebte, das Land in die Stadt hereinzuholen. Ein den Wiener Schrammeln analoger, aus der Wiener Vorstadtkultur erwachsener Tanz wurde offenbar nicht angestrebt.
Aus welcher Zeit, aus welcher Region Tänze, Formen und Materialien nun stammen, auch heute scheint es wichtig, im Kathreintanz einen „Volkston“ zu treffen sowie ein erdachtes „Idealbild von Landleben“ entstehen zu lassen. Fakt ist, dass heute ein Standardrepertoire an Tänzen existiert, das zum Unterschied zum Ballett, wo sich das Repertoire aus Überbleibseln vergangener Produktionen zusammensetzt, sammelnd entstand.
Die programmatische Abfolge des Kathreintanzes ist auch nach dramaturgischen Überlegungen strukturiert. Der oft viel gegliederte Auftanz scheint umso wichtiger, als er darüber Auskunft gibt, dass Musik und Tanz eine Einheit sind, dazu aber auch Beteiligten die Gelegenheit gibt, sich zu präsentieren. Die darauffolgende Reihe von Tänzen ist – mit Variationsmöglichkeiten – wohl weitgehend festgeschrieben, wird aber erfreulicher Weise durch besondere Einstudierungen wie etwa den im Vorjahr gezeigten Reifentanz (vergleiche dazu den berühmten Reifentanz im Ballettklassiker „Dornröschen“) oder durch Hannelore Unfrieds Beispiel aus dem 19. Jahrhundert erweitert. Letzteres mag daran erinnern, wie intensiv der Austausch zwischen Volkstanz und Gesellschaftstanz gerade in dieser Zeit war.
Konstruktion II: „La Fille mal gardée“
Um Einigendes gleich vorwegzunehmen: Grundidee von Frederick Ashtons (1904–1988) Wiederbelebung des alten Balletts „La Fille mal gardée“ war seine – des englischen Städters – Sehnsucht nach dem Landleben. Diese Idee brachte er in Zusammenhang mit Beethovens 6. Sinfonie und bezeichnete in der Folge seine Fassung des 1789 uraufgeführten Werks seine „Arme-Leute-Version“ der Komposition. Beethoven selbst nannte sie „Pastoral-Sinfonie oder Erinnerungen an ein Landleben“.
Mit dem ihm eigenen Witz und einer erheblichen Portion Unbekümmertheit wandte sich Ashton, mögliche kritische Einwürfe von „Konstruktion“ und „Künstlichkeit“ vollkommen außer Acht lassend, 1959 dem Projekt „La Fille mal gardée“ zu. Mit dem Selbstbewusstsein eines arrivierten Choreographen, der überzeugt davon sein konnte, dass seine künstlerischen Bemühungen in der Öffentlichkeit auf höchstes Interesse stoßen würden, machte er sich an die Wiederbelebung. Er tat dies für sein künstlerisches „Heimatensemble“, das auch durch sein Wirken nationalen Status erlangt hatte – es war zum „Royal Ballet“ aufgestiegen.
Als erklärtem Träger der Idee „klassischer Tanz“ war Ashton wohl bewusst, dass von dem alten Werk nur einige überlieferte Bewegungsbausteine vorhanden waren. Gestärkt durch das Wissen des Balletthistorikers Ivor Guest, wandte er sich diesen Bausteinen zu, wobei ihm seine eingehende Kenntnis um Ästhetik, Material und bühnenmäßig angewandten Volkstanz aus der Zeit um 1800 half. Ashton schöpfte aus den verschiedensten Pools: Zum einen aus den überlieferten Volktanzformen (Maibaumtanz, Holzschuhtanz und Stocktanz), aus Mischformen zwischen Gesellschaftstanz und Ballett (Bändertanz), aus sogenannten Musterbüchern, die „Stellungen“ und Personenkonstellationen mit Tanzgeräten der Zeit festhalten, aus dem englischen Vaudeville (Tanz des Hahns und der Hennen, Charakterzeichnung der Rolle der Mutter). Dazu kamen Wiederbelebungen langer mimischer Passagen. Gefasst in ein stringentes dramaturgisches Konzept, wurden diese teils divergierenden Bausteine eingebettet in Ashtons choreographischen Stil. Die neue Konstruktion des alten Balletts präsentiert sich nun als ein einheitliches stimmendes Ganzes: witzig, virtuos, in den gelungenen Charakterzeichnungen sogar ergreifend.
Nicht nur die getanzten – für die Bühne freilich überhöhten – Volkstanzelemente könnten also auch für die Kathreintänzer von Interesse sein. Nachdem Kathrein den Selbsttanzenden Einhalt geboten hat („Kathrein sperrt den Tanz ein“), könnte man sich nun – um den Volkstanz wissend – als Zuschauer bei „La Fille mal gardée“ in der Wiener Staatsoper einfinden.