Im Rahmen von ImPulsTanz 2015 zeigen Florentina Holzinger & Vincent Riebeek ihren u. a. von Anita Berber inspirierten „Schönheitsabend“. „Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“ nannten – genussvoll und provokativ – Anita Berber (Leipzig 1899 – Berlin 1928) und Sebastian Droste (Hamburg vermutl. 1892 – ebda. 1927) ihr Wiener Programm, das sie im November und Dezember 1922 darboten. Der Nachruhm der Berber ist wesentlich geprägt durch den damit einhergegangenen Wiener Skandal.
Noch in den 1980er Jahren befand sich in der Wiener Innenstadt ein in Sammler-Kreisen sehr bekannter „Curiositäten-Laden“. Der Inhaber, ein kleiner alter Mann, hatte keineswegs die Absicht, seine Schätze an x-Beliebige zu verkaufen. Dem Neuankömmling begegnete er misstrauisch. Ja, er hätte Tanz-Materialen, Programme, Künstlerpostkarten, sogar Memorabilia, aber könne man sein Angebot überhaupt würdigen? War das Vertrauen einmal hergestellt, präsentierte er seine Ware mit großer Freude. Dieser Zustand änderte sich augenblicklich, wenn der Name Anita Berber fiel. Mit Abbildungen dieser berüchtigten Tänzerin in Händen, begannen er zu zittern, der alte Mann fing an zu beben und zu stottern, Schweiß trat auf seine Stirn: „Können Sie sich vorstellen, was das war? Nackt ist sie aufgetreten, nackt! Ganz Wien ist zusammengelaufen. Sondergarnituren der ‚Elektrischen‘ sind nach den Nachtvorstellungen im Konzerthaus bereit gestanden. Verhaftet hat man sie jeden Tag, dann freigelassen, nach der Vorstellung sie und diesen Droste wieder verhaftet, und dann wieder gehen lassen, es war ein ewiges Hin und Her. Nackt hat sie getanzt, völlig nackt!“
Das körperliche Nachbeben, das man hier gut sechzig Jahre nach diesem Aufsehen erregenden Geschehnissen miterleben konnte, ist Zeugnis jener Erregung, in die Anita Berber und Sebastian Droste die Stadt versetzt hatten. Der Skandal war – auf den ersten Blick gesehen – durch das Zusammenwirken von aufgegriffener Thematik – die Tänze trugen Titel wie „Byzantinischer Peitschentanz“, „Cocain“, „Märtyrer“, „Selbstmord“, „Morphium“, „Haus der Irren“, „Astarte“ und „Die Nacht der Borgia“ – und die laszive Art und Weise der Darbietung entstanden. Das volle Ausmaß der Erregung wurde aber durch Berbers skandalöses privates Verhalten erzielt, das die Auftritte begleitete. Ein zweiter Blick auf das Geschehen deckt ein vielfaches Geflecht auf, das zu ergründen jede künstlerische Beschäftigung mit dieser Tänzerin erzwingt. Denn und vor allem: kann der hohe Grad der Erregung, den die Tänzerin in den Zwanzigerjahren auslöste, heute überhaupt vermittelt werden? Und: Wodurch war eben dieser entstanden? Waren es allein die mitunter freizügigen Kostüme („völlig nackt“ hat sich die Berber wohl nur für Fotostudien präsentiert), war es das gewählte Schrittmaterial, die aus reichlicher Filmerfahrung eingesetzten Posen, war es auftrumpfende Frechheit, der unbedingte Wille zu provozieren? Lag nicht ein Großteil des entstandenen Zuschauerschocks darin, im Wiener Konzerthaus etwas zu sehen, was hier absolut nicht beheimatet war? Das heißt: Lag das Skandalöse nicht in der Tatsache, dass man Zeuge eines bis dahin nicht vorstellbaren Transfers war? Was hier offenbar so große Irritation erzeugte, war die Zerstörung der Einheit von Darbietung, Auftrittsort und dem dazu gehörenden Zuschauerkreis. Diese Einheit war bislang weitgehend eingehalten worden, nun begannen sich „hohe“ (Ballett-)Kunst, das Genre des Varietés, der Revue, der Tanz im Kabarett, jener der geschlossenen Zirkel mit dem Neuen Tanz in den Konzerthäusern zu vermischen. Die – heute nicht mehr herstellbare – Auswirkung war die oben geschilderte. Ob die nachhaltige Wirkung der Berber dermaßen groß gewesen wäre, wenn sie – wie in weiterer Folge – in Wien nur im Varieté Apollo (wo sie bereits im November 1917 ihr Wien-Debüt gegeben hatte), im Tabarin und in den Kammerspielen aufgetreten wäre, muss dahingestellt bleiben. (Der Direktor des Ronacher hatte 1922 im Ringen um ein Engagement des skandalumwitterten Tanzpaares den Kürzeren gezogen; das Etablissement Parisien, wo Berber 1920 im selben Programm wie Tilly Losch und Toni Birkmeyer getanzt hatte, versuchte nun durch den Auftritt des „Nacktballett Celly de Rheydt“ Paroli zu bieten; und der gefinkelte Besitzer des Lurion ließ durch die Presse verbreiten, dass sein Programm auch ohne die Mitwirkung von Berber/Droste hochklassig sei.)
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine frühe Wiener Rezension von Alfons Török, der die Berber als „dem Varieté nahestehenden Filmstar“ bezeichnet. Török schreibt in „Der Merker“ (1. 5. 1921) über 1920 im Konzerthaus stattgefundene Solo-Tanzabende, die Nähe zu anderen Genres ergebe eine „durch und durch moderne, komplizierte, in unzähligen Facetten schillernde Ausdruckskunst, die gleicherweise tanztechnisch wertvolle, wie grotesk-mimische, dabei oft befremdliche Bestandteile enthält und zu alldem durch gute Kostüme gestützt wird.“ All dies hätte es zuwege gebracht, „das Publikum ganz aus dem Häuschen zu bringen.“ Aber, so setzt Török fort, der Nähe zum Film sei es geschuldet, dass Soli wie „Koreanischer Tanz“, „Golliwogg‘s Cakewalk“ und „Pritzelpuppe“ zwar „echteste Tanzleistungen“ gewesen wären, allerdings „vieles leider zu stark aufgetragen schien und dadurch für den fühlenden Zuschauer kinohaft wirkte.“
Ab diesem Zeitpunkt war die Verbindung zwischen der Berber und Wien immer enger geworden, auch das Ineinandergreifen der Genres wurde weiter geführt. Fast ein Drittel ihrer zwei Dutzend Filme drehte sie ab 1920 in Wien, auch ihr letzter Spielfilm, „Irrlichter der Tiefe“ (UA 1923), entstand hier. Der Dokumentarfilm zum Berber/Droste-Abend, „Moderne Tänze“, gilt als verschollen. Ein weiterer Transfer geschah durch den Kunstband „Die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“, erschienen 1923 im Wiener Gloriette-Verlag, mit den Legenden zu den einzelnen Tänzen, Gedichten von Berber und Droste, einem Essay von L. W. Rochowanski, den Dekorationsentwürfen und Figurinen von Harry Täuber, Zeichnungen von Harta und Berber sowie den heute weltweit bekannten Fotos aus dem Atelier Madame d’Ora. Durch Rochowanski, Täuber und Erika Giovanna Klien, die die Plastik „Reklame-Kiosk Anita ‚Berber tanzt‘“ schuf, ist eine Verbindung der Tänzerin zum Kreis des Kinetismus belegt.
Das Interesse der Wiener Zeitungen an der Berber kulminierte in der Zeit kurz vor und nach den Aufführungen der „Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“. In seiner Diplomarbeit „Tanzende Sünde“ (2013) analysiert Christian Haider 203 redaktionelle Texte, die im Zeitraum 12. 11. 1922 bis 16. 1. 1923 in 23 Wiener Tages- und Wochenzeitungen erschienen waren, wobei Berbers behördliche Ausweisung aus Österreich – Droste war schon vorher nach Ungarn abgeschoben worden – zusätzlich Sensation machte. Das Einschreiten der Polizei bezog sich, so muss betont werden, nicht auf die Darbietungen, sondern auf hauptsächlich Droste vorgeworfene kriminelle Handlungen.
Aber auch fachliche Gründe wurden zu Themen, etwa die „Entehrung“ der Musik von Beethoven. Ganz abgesehen davon, dass die Berber eine für den Ausdruckstanz typische, „normal“ anzusehende Musikauswahl traf, entstand u. a. wegen der Verwendung der „Mondscheinsonate“ ein veritabler Kritikerstreit. Und Karl Kraus‘ „Die Fackel“ gab süffisante Kommentare zum Treiben rund um die „bekannte Tänzerin“.
Den Wiener Status „die Berber“ hat die Tänzerin spätestens Ende 1922 durch das Kabarettprogramm „Anitta Gerber in ihren schauerlichen Tänzen“ im Etablissement Leopoldi-Wiesenthal erlangt. Ob der Interpret des Liedes „Anitta Gerber“, der Komiker Karl Libal, auch die von „Professor“ Fritz Wiesenthal einstudierten Nummern – „Strychnin-Tanz“, „Futtinger Tanz“, „Dorian Gray-Tanz“, „Chloroform-Tanz“ – ausführte, ist nicht überliefert. Zeitgleich traten die Kleinkunstspiele Bohème mit der Parodie „Annita Sperber und Sebastian Drosinger“ auf den Plan. Und nach dem unfreiwilligen Abgang der Berber aus Wien lockte das Kasino Monte Carlo in der Ballgasse geschäftstüchtig mit „Tänzen des Grauens und des Lasters“ einer „Anita Berber II“. Die „echte“ Berber aber konnte das Publikum weiterhin als Filmdarstellerin bewundern.
Das immer wieder grelle Aufstrahlen der Berber verglühte bekanntlich bald. Klaus Mann, der sich im Milieu des Neuen Tanzes beheimatet fühlt, erinnert sich zwei Jahre nach ihrem Tod in „Die Bühne“ (Nr. 275, 1930): „Man schrieb 1924. Anita Berber war schon eine Legende. Sie war erst seit zwei oder drei Jahren berühmt, aber schon ein Symbol geworden. Verderbte Bürgermädchen kopierten die Berber, jede bessere Kokotte wollte möglichst genau wie sie aussehen. Nachkriegserotik, Kokain, Salomé, letzte Perversität: solche Begriffe bildeten den Strahlenkranz ihrer Glorie. Nebenbei wussten die Kenner, dass sie eine ausgezeichnete Tänzerin war.“ Aber an einer „ausgezeichneten Tänzerin“ waren weder Medien noch Publikum interessiert, als „öffentliches Ereignis“ (Christian Haider) jedoch erfüllte die Berber exakt die Nachfrage der frühen Zwanzigerjahre.
Florentina Holzinger & Vincent Riebeek "Schönheitsabend" von 11. bis 13. August 2015 im Kasino am Schwarzenbergplatz im Rahmen von ImPulsTanz