Das war wohl einer der gemeinsamen Nenner, auf die sich die Diskutanten bei der Veranstaltung anlässlich des 20jährigen Bestehens des Tanzquartier Wien (TQW) einigen konnten. Die eingangs gestellten Fragen „Wohin entwickeln sich zeitgenössischer Tanz und Performance? Wie wird der Tanz der Zukunft aussehen? Welchen Tanz wünschen wir uns, welchen brauchen wir?“ fanden erwartungsgemäß keine zusammenlaufenden Antworten. Christoph Mandl fragte anschließend auch bei Anna Leon, der neuen Kuratorin für Tanztheorie am TQW nach.
Die Beiträge reichten von Hoffnungen („Die Visa müssen für Künstler:innen leichter zu bekommen sein“ bis zur Verhandlung der kapitalistischen Gesellschaft, die Gegensätze produziert und damit auch gegensätzliche Zukünfte hervorbringen. Damit verbunden natürlich auch die Frage: „Wer hat das Recht, die Zukunft zu entwerfen?“
Handfeste Zukunft lieferte Moritz Majtze, Choreograf und bildender Künstler, der von dem mit ihm mitgestalteten Konzept des Berliner Dance House als 24/7-Ort berichtete. Mit ihm am Panel diskutierten Ligia Lewis, Choreographin und Tänzerin, Julia Müllner, Performerin und Ana Vujanovic, Kuratorin und Autorin. Anna Leon, frisch engagierte Theoriekuratorin des tqw, navigierte durch den schwierigen, interessanten Abend.
Grammatiker wissen es längst, aber es könnte auch Philosophie drinnen stecken: „Zukunft“ kennt kein Plural.
Statt einer Key Note gab die US-Tänzerin und Choreografin Jennifer Lacey mit kleiner Besetzung die Performance „Unnamed Future Project“. Da ging es sehr familiär zu, Große und Kleine nahmen den Boden ein, Lacey moderierte tänzerisch. Jedoch: heute kann Idylle nur mit dem Vornamen „trügerisch“ daherkommen.
20 Years of TQW – Past / Present / Future. “Dance & Future” am 5. November 2021 im Tanzquartier Wien.
„Doing things with theory“
Im vergangenen Sommer wurde Anna Leon als Kuratorin für Tanztheorie am Tanzquartier Wien (TQW) angestellt, neben den beiden freiberuflichen Theoriekurator:innen Janine Jembere und Thomas Edlinger. Leon ist Tanzhistorikerin und Theoretikerin, studierte Psychologie und Philosophie an der University of Bristol und Kunstphilosophie an der Université Paris I Panthéon-Sorbonne und promovierte in Tanzwissenschaften an der Universität Salzburg mit einer Arbeit mit dem Titel Multiple Stories. Expanded Choreography and Choreographic History. Parallel zu ihrer Forschung unterrichtet sie praxisorientierte Tanzgeschichte und -theorie in verschiedenen Kontexten und arbeitet auch als Dramaturgin.
Dies ist ein gutes Signal zum 20-Jahr-Jubiläum des tqw, denn die Auseinandersetzung mit dem Tanz in ihrer Vielfalt soll nicht allein zwischen Bühne, Barre und Zuschauerraum stattfinden.
tanz.at: Anna Leon, gleich zu Beginn Ihrer neuen Tätigkeit werden Sie hart gefordert, um ein Gespräch über die Zukunft des Tanzes zu moderieren. Aber wie sehen Sie ganz persönlich diese Zukunft?
Anna Leon: Ich denke, wir sind an einem Moment angelangt, an dem die Möglichkeit, sich alternative Zukünfte vorzustellen – und unser Bestes zu tun, diese auch zu verwirklichen – sehr groß ist. Die Klimakrise, die Erfahrung von Covid-19, aber auch die verstärkte Darstellung von Antidiskriminierungsdiskursen und -praktiken haben dabei eine Rolle gespielt. Mit anderen Worten: Wir befinden uns an einem Punkt, der uns die Möglichkeit eröffnet, darüber nachzudenken, wie wir unsere Welt anders gestalten können. Das Gleiche gilt für den Tanz: Es tun sich Fragen auf, wie Tanzinstitutionen auf ökologische Notwendigkeiten reagieren können und sollten, wie Vielfalt in diesem Bereich umgesetzt und sichtbar gemacht werden kann, wie wir Ausbildung und Arbeitsbedingungen neu denken können. Es liegt noch ein langer Weg vor uns, aber ich bin sehr optimistisch, was die Zukunft des Tanzes angeht – und ich bin ebenso optimistisch, dass der Tanz immer noch in der Lage ist, in der Bewegung und der Verkörperung jene sozialen, affektiven und politischen Realitäten zu verarbeiten, die unsere Zukunft ausmachen werden.
Stimmt mein Eindruck, dass beim Tanz immer etwas voraneilt und etwas hintennach hinkt – einmal die Tanzpraxis, einmal die Tanztheorie?
Anna Leon: Ich würde es nicht so hierarchisch ausdrücken, aber in gewisser Weise haben Sie Recht: Auch wenn sowohl Künstler*innen als auch Theoretiker*innen seit vielen Jahren die Überschneidungen zwischen ihren Praxen deutlich machen und die künstlerische Forschung weithin als eine Form der Wissensproduktion anerkannt ist, gibt es immer noch eine Trennung von Tanzpraxis und Tanztheorie. Eine Priorität meiner Arbeit sehe ich darin, darauf zu reagieren, vor allem auf der Ebene der Ausbildung: Wir bereiten im Tanzquartier ein Programm mit dem Titel „Doing things with theory“ vor, das Praxis- und Theoriestudierende aus Arbeitsfeldern mit Tanz- und Performancebezug einlädt, in Workshops zusammenzuarbeiten, um jene Art des Austauschs zu fördern, die die von Ihnen angesprochene Trennung nach und nach aufheben kann.
Sie haben schon im Sommer 2021 bewiesen, dass Sie das TQW in puncto Publikumsschichten öffnen möchten – zum Beispiel mit der Workshop-Reihe „Mapping the futures of dance“, bei der Sie Laien, Studierende und Profis zusammenbrachten. Wird es weitere Bestrebungen in diese Richtung geben?
Ich finde es interessant, dass sich verschiedene Menschen in unterschiedlichen Kontexten als Laien fühlen: Manchmal sagen mir Künstler*innen, dass sie sich fachlich nicht gut genug gerüstet fühlen, um einen Theorievortrag zu besuchen, während sich Theoretiker*innen andererseits nicht in ein Tanzstudio trauen. Ich möchte in diesem Sinn daran arbeiten, die Theorieformate im TQW zugänglich zu machen – und damit meine ich nicht, sie zu vereinfachen, sondern eine Gemeinschaft von Interessierten zu schaffen, die sich bei der theoretischen Auseinandersetzung mit Tanz und Performance wohl fühlt. Ein wichtiger Teil meiner Arbeit besteht darin, die Bedingungen für dieses Wohlbefinden zu schaffen. Auch meine Kolleginnen Linda Samaraweerová und Theresa Rauter in den Bereichen Körper- und Performancepraktiken und Vermittlung arbeiten übrigens in diese Richtung, indem sie z. B. Open-Level-Workshops bzw. maßgeschneiderte Vermittlungsformate anbieten.
Wien liegt mit dem TQW und dem Impulstanz Festival international sehr weit vorne, was die Performances angeht. Wie schaut es universitär und in sonstigen Institutionen mit der Tanzforschung in Österreich aus?
Die einzige universitäre Abteilung, die sich ausschließlich der Tanzforschung widmet, ist die Tanzwissenschaft in Salzburg, die Arbeit auf sehr hohem Niveau leistet – auch aus historischer Perspektive. Darüber hinaus wird auch in vielen anderen Kontexten zu Tanz und Performance geforscht und gelehrt – allein in Wien gibt es Forscher*innen, die an der MUK, der Universität Wien, der Angewandten oder der Akademie der bildenden Künste arbeiten, und diese Liste ist nicht vollständig... Ein Großteil dieser Forschung passiert an der Schnittstelle von Praxis und Theorie, um auf Ihre vorherige Frage zurückzukommen. Ich sehe das Theorieprogramm des TQW als eine Plattform, um diese Forschung sichtbar zu machen. Deshalb habe ich vor, viel mit lokalen Forscher*innen zusammenzuarbeiten: Im Januar hält Mariama Diagne, bis vor kurzem an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, einen Vortrag hier im TQW. Im April stellt Eike Wittrock aus Graz seine Arbeit vor. Und Marlies Surtmann und Olivia Jaques, Doktorandinnen der Performance Studies in Wien, erhalten im Frühjahr eine Theorie-Residency im TQW.