Teil 2 des Rückblicks auf DVD-Erscheinungen 2015. War der erste Teil des Rückblicks auf die DVD-Erscheinungen des letzten Jahres vor allem den Best-of-Interpretationen aus der Klassik mit führenden Ensembles, insbesondere dem Royal Ballet gewidmet, stellen wir im zweiten Teil weitere Highlights vor, die nicht nur auf Altbewährtes setzen, darunter "A Winter's Tale", „Feuervogel“, „La Bête et la Belle“, Lang Langs "The Chopin Dances Project" oder ein Portrait von Sidi Larbi Cherkaoui.
Ein bisher unverbrauchter Stoff, Shakespeares selten gespielte Tragikomödie „The Winter’s Tale“ wurde – im Originaltext inszeniert von Kenneth Branagh – Mitte Dezember live aus London in die Kinos übertragen. Genau wie die Welturaufführung der Tanzadaption des Royal Ballet School-Absolventen Christopher Wheeldon zuvor im April 2014. Und weil Bewegungsfolgen im Ballett bisweilen mehr an sublimem Hintergrund ausdrücken als intensive Wortgefechte, ergänzen sich nicht nur Branaghs und Edward Watsons genreverschiedene Rollengestaltungen des übereifersüchtigen Leontes wunderbar. Dass die auf hohem Niveau packende und inhaltlich schlüssige Royal-Ballet-Produktion zu Musik von Joby Talbot nun auf DVD zugänglich ist (Opus Arte), bringt neue Farbe und hoffentlich Neugierde in das im gängigen Bewusstsein von „Nussknacker“, „Dornröschen“, „Schwanensee“ und „Giselle“ dominierte Handlungsballettspektrum.
Am Théâtre du Capitol (Toulouse) hat Kader Belarbi, ehemaliger Étoile der Pariser Opéra und seit 2012 Chef der dortigen klassisch geformten Kompanie mit „La Bête et la Belle“ – frei nach der Erzählung von Jeanne-Marie Leprince de Beaumont (gemeinhin als Musical oder Disneys „Die Schöne und das Biest“ bekannt) – sein Stück über die Akzeptanz von Andersartigkeit und das Animalische im Menschen aufzeichnen lassen (Opus Arte). Es ist die Geschichte der Emanzipation und Grenzüberschreitung eines anfangs naiven Mädchens (Julie Loria), ausgelöst durch die Begegnung mit einer Kreatur, die wegen ihrer fremdartigen Körpersprachlichkeit gefürchtet und gejagt wird (innerhalb einer ganzen Schar von originellen Tierwesen herausragend: Bestieninterpret Takafumi Watanabe). Musikalisch wird das 2005 in Montréal kreierte Ballett durch eine Collage aus Klängen von Ligeti, Daquin, Haydn und Ravel getragen. Ihre Jahre sieht man der Choreografie, die szenische mit poetisch-surrealen Einfällen kombiniert, nicht an.
James Kudelkas in der Kameraführung beeindruckende Filmballettversion des „Feuervogel“, die in groben Zügen Fokines Original folgt, tut sich hier trotz 2003 im Studio hinzugefügter Spezialeffekte schwerer. Einerseits besiegen der filigrane Serbe Aleksandar Antonijevic und seine flatterhafte Partnerin Greta Hodgkinson den in wilder Maori-Manier von Rex Harrington ein Jahr vor seinem Bühnenabschied gespielten Kaschtschei. Die Handlung drum rum aber geht dem National Ballet of Canada in einem Rund aus blattlos-weißem Baumgeäst und inhaltlich verwaschenen Ensembleszenen verloren (EuroArts). Dass noch größerer Verzicht auf das von Strawinsky vertonte Märchen ebenso wenig ein Patent-Rezept ist, zeigte Sidi Larbi Cherkaouis gleichnamige Debütarbeit für das Stuttgarter Ballett. In München inszeniert der flämisch-marokkanische Choreograf bald eine Oper, die in dieser Saison auch in Nürnberg – hier in einer aus Toulouse übernommenen und sehr freikörperkultigen Inszenierung – auf dem Programm steht: Jean-Philippe Rameaus „Les Indes Galantes“. Der jüngst (mit Les Talens Lyriques unter Leitung von Christopher Rousset) auf DVD gepresste Live-Mitschnitt aus Bordeaux legt vor, was der italienischen Choreografin Laura Scozzi eingefallen ist, um die erste Ballettoper des französischen Barockkomponisten in die Gegenwart zu katapultieren (Alpha Classics). Eine andere Möglichkeit zur Vorbereitung bietet die 2015 auf Festivals vorgestellte und jetzt auf DVD erhältliche Dokumentation „The Need to Dance“ der Filmemacher Petra und Peter Lataster, die Cherkaoui bei seiner Arbeit quer durch Europa begleitet haben.
Hierzulande so gut wie unbekannt, entführt die von Margot Fonteyns langjährigem Bühnenpartner Sir Robert Helpmann (1909–1986) vor 40 Jahren produzierte und von Ronald Hynd (*1931) auch rein choreografisch bestens verständlich umgesetzte Adaption der berühmten Léhar-Operette „Die lustige Witwe“ in die Wirren verloren geglaubter und wiedergefundener Liebe. Jenseits des Atlantik und in den USA längst ein Klassiker, überzeugt die Studioaufzeichnung des National Ballet of Canada aus dem Jahr 1987 mit niemand geringerem in der Titelrolle als Karen Kain. 28 Jahre war sie dem Ensemble als Tänzerin und von 2005-2014 als künstlerische Direktorin eng verbunden. Noch heute beim Zusehen überzeugend tanzt an ihrer Seite der Australier John Meehan (*1950). Zwölf Jahre zuvor – im Jahr nach seiner Ernennung zum Ersten Solisten des Australian Ballett – hatte er den Part des Grafen Danilo kreiert und damit wesentlich zum Erfolg des von Nostalgie sprühenden Werks beigetragen. Damit hat Arthaus Musik eine echte Alternative zum gesungenen Original ausgegraben!
Sony dagegen beweist mit Lang Langs 2013 im Pariser Théâtre de Champs-Elysées realisiertem „The Chopin Dance Project“ sicheres Gespür für eine geniale Cross-Over-Begegnung. Der Gedanke, Tanz sei in Bewegung umgewandelte Musik, veranlasste den chinesischen Starpianisten zur Kooperation mit dem Choreografen Stanton Welch und seinen Tänzern des Houston Ballet. Herausgekommen ist ein einmaliges, abendfüllendes Werk – „Sons de l’âme“ („Klänge der Seele“) zu zwölf Kompositionen von Chopin – das in seiner physisch einfühlsamen und gegenseitig von großem Respekt getragenen Ausformung alle Erwartungen übertrifft. Genau wie im vorausgegangenen Sommer, als das texanische Ensemble im Rahmen der Hamburger Balletttage mit seiner ästhetisch klaren Linie, virtuoser Bravour und einigen kürzeren Arbeiten ihres Chefs Welch das Publikum ausnahmslos für sich vereinnahmen konnte.
Ein absolutes Unikat und „must have“ für alle Ballettfans ist John Neumeiers „Weihnachtsoratorium“ (major), das seit 2013 alle sechs Teile der Komposition von Johann Sebastian Bach in einer Gesamtchoreografie umfasst. Aufführungen in Hamburg und Baden-Baden sorgten für ausverkaufte Häuser. In der Doppel-DVD-Ausgabe ergänzt ein Interview mit dem Choreografen das psychologisch-dramatisch aufgeladene Geschehen. Den wohligen Thrill bei Betrachten befeuert die Superbesetzung: Lloyd Riggins (Ein Mann), Anna Laudere (Die Mutter), Carsten Jung (Ihr Ehemann), Karen Azatyan (Ein Hirte), Silvia Azzoni und Alexandr Trusch (beide Engel). Besser kann Ballett nicht sein! Im Gegensatz zur Live-Aufführung ermöglicht das Zurückzappen, Neumeiers choreografische Geheimnisse genauer unter die Lupe zu nehmen. Eine Magie, die sich über Szenen hinweg steigert.
Mit Lloyd Riggins Einstudierung von August Bournonvilles „Napoli“ (1842) stellte das Hamburg Ballett eindrucksvoll noch andere Facetten seines Könnens unter Beweis. Den Weg in die DVD-Regale schaffte jedoch die bereits 2009 von Sorella Englund und Nikolaj Hübbe (früher selbst phänomenal in der Rollengestaltung des Fischerburschen Gennaro) vorgestellte und 2014 wieder aufgegriffene Neuinszenierung für das Königlich Dänische Ballett (Opus Arte). Die Handlung wurde kurzerhand in die 1950er Jahre transferiert Das pfiffigere Golf-von-Neapel-Flair brachten dabei die nur live zu erlebenden Hamburger aufs Parkett. In Kopenhagen gibt sich das Corps de ballet vor allem in den gestenreichen Spielsequenzen eher antiromantisch verrucht-schmissig. Deren Ass allerdings ist Alban Lendorf – seit August 2015 Principal beim ABT. Bleibt abzuwarten, ob er dort auf Alessandra Ferri trifft, die in den USA mit über 50 noch einmal in ihre Parade-Rolle der Julia schlüpfen wird.
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Lang Lang „The Chopin Dance Project“
John Neumeier „Weihnachtsoratorium“
August Bournonville „Napoli“
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