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Hulfeld Theatergeschichten iconObwohl das Buch Episoden und Geschichten zu Theater-Phänomenen beinhaltet, ist der von Stefan Hulfeld herausgegebene Band keine übliche Anthologie mit Anekdoten und Schnurren über berühmte Schauspieler*innen. Mit ihren Essays möchten die Autor*innen, allesamt historiographisch forschende Theaterwissenschaftler*innen, interessierte Menschen auf informative Weise unterhalten und gleichzeitig auch die angeblich festgeschriebene Theatergeschichte Europas ein wenig verrücken. 

Das gelingt durch Erzählungen über wenig Bekanntes wie Industrieballette, oder Felix Saltens Besuch eines Aristokraten-Theaters im Palais Augarten. Auch ein von der spanischen Inquisitionsbehörde konfiszierter Papagei bringt neue Perspektiven zutage, ebenso wie ein näherer Blick auf deutsche „Wandertruppen“ im 17. Jahrhundert.

Gemeinhin dominiert ja folgender Wissenstand die bürgerliche Allgemeinbildung: Theater bedeute die Aufführung von geschriebenen Dramen und sei in der klassischen Epoche im antiken Griechenland erfunden worden, dann jedoch in der christlichen Periode ein paar Jahrhunderte lang in tiefer Vergessenheit versunken, um dann von italienischen Humanisten wiederentdeckt zu werden. Seither habe es sich dank genialer „klassischer“ Dramatiker immer ausgeklügelter entwickelt. Der Anbruch der Moderne und der Erste Weltkrieg hätten dann für Turbulenzen innerhalb der Gattung gesorgt, und heute gelte schlussendlich das postmoderne „Anything goes“. 

Es ist ein Verdienst der jüngeren Theaterwissenschaft, diese Idee vom Ursprung und einer vorgeblich teleologischen Entwicklung des so genannten Theaters problematisiert zu haben, und im Speziellen die Leistung der Theaterhistoriographie, den Begriff „Theater“ grundsätzlich und für jede Zeitperiode auf ein Neues zu befragen. Wenn man theatrale Phänomene so denkt, wird erkennbar, dass unter „Theater“ immer Verschiedenes verstanden wurde und keineswegs nur die künstlerisch anspruchsvolle Reproduktion geschriebener Dramen in einer gebauten Architektur aus Bühne, Sitzplätzen und Logen. Und Geschichte existiert ja nicht per se, sondern wird von Menschen geschrieben, die von Überzeugungen und Theorien geleitet Sinnzusammenhänge konstruieren. Zwangsläufig kommt es dabei zu Ausgrenzungen vermeintlich nicht dazu passender Praktiken, ob aus Überzeugungen oder Ignoranz. Dem treten die Autor*innen der „Unerhörten Theatergeschichten“ entgegen und beleuchten Begebenheiten, die in historiographischen Überblickswerken in der Regel vernachlässigt werden. Dabei kontextualisieren sie diese mit Überlegungen über die spezifische Epoche und betrachten auch die jeweiligen theatralen Verhältnisse.

Ein Industrieballett

So widmet sich etwa Johanna Hilari einem populären Phänomen aus der Epoche der beginnenden Industrialisierung gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Europa und den USA, den Industrieballetten. Konkret geht es in ihrem Essay um „New York, ein Maschinenwesen und strahlende Eisblumen auf der Bühne. Aktualitätsbezüge im Industrieballett ‚Columbia‘“. Als künstlerisch minderwertig geltend, kamen diese interessanten Zeitzeugnisse in der Tanzhistoriographie bisher kaum vor. 

Gerade „Columbia“, uraufgeführt 1893 in Berlin, war auch in Wien sehr erfolgreich. Das Libretto stammte von Josef Haßreiter und Hermann Regel, die Musik von Joseph Bayer, alle drei erfolgreiche Kreateure von Balletten an der k. k.  Hofoper. Anlass dieses Balletts war die „World’s Columbian Exposition“ zum Jubiläum der Entdeckung Amerikas in Chicago. Industrieballette entstanden meistens in thematischem Bezug zu einer der damals aufgekommenen, großen Weltausstellungen, in denen sich Länder als erfolgreiche Industrienationen präsentierten. Aufwändig gestaltet, waren sie inhaltlich wie auch dramaturgisch geprägt von technischen Innovationen wie Elektrizität und Maschinen. Es ging in diesen Shows nicht um virtuos-komplexe Chorographien wie in den klassischen Handlungsballetten, sondern um revueartige Nummernabfolgen großer Ensembleszenen in dekorativen Kostümen und spektakulären Bühnenszenerien.

So ist die Protagonistin Columbia ein weibliches Maschinenwesen, das mit Händen elektrische Funken erzeugen und häufig die Schauplätze wechseln kann. Von New York geht es zu den Niagara Fällen, wo Columbia Eisblumen zum Schmelzen bringt. Dann besucht sie Baumwollplantagen und landet schließlich in Chicago, um dort die Weltausstellung zu eröffnen. Ästhetische Wirkungsfaktoren waren etwa auch ein Diorama und eine komplizierte Turmkonstruktion aus menschlichen Körpern und Brieftauben. Derart technikaffin habe sich das „imperialistische Fortschrittsdenken“ gefeiert, so Hilari.

Unerwarteterweise endet das Spektakel, indem das elektrische Wesen leblos zusammensinkt, als sein Erfinder einen Preis entgegennehmen soll. Aber warum? Hilari konnte nichts Erhellendes in den Quellen zu diesem seltsamen, der Zelebrierung des technologischen Fortschritts widersprechendem Ende von „Columbia“ finden. Man ist geneigt, an „Coppelia“ zu denken, das noch in romantischer Tradition stehende Handlungsballett nach E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“. Ob allerdings so eine kulturpessimistische Deutung zulässig wäre, ist fraglich. 

Ständetheater

Theresa Eisele berichtet über „Ein trübseliges Pläsir. Mit Felix Salten im Ständetheater um 1900“ und nimmt in ihrem Text einen Besuch des Schriftstellers einer aristokratischen Theatervorstellung im Palais Augarten zum Anlass, ihren Blick auf die damals häufig stattfindenden, halbprivaten Theatervorstellungen des Wiener Adels zu werfen. Hierzu hatte auch die Öffentlichkeit Zutritt, denn es ging auch um das Sammeln von Geld für karitative Zwecke. Die Zeitungen berichteten gern über solche Events, und nicht nur wegen des Charity-Aspekts.

So schrieb auch der Schriftsteller Salten darüber, der als Chronist für seine Schrift „Wiener Adel“ diesen samt Standes-Inszenierungen nicht ungern unter die Lupe nahm. Eisele zeigt, dass jene adelige Praxis Theater zum „Austragungsort sozialer Fragen“ machte. Saltens Urteil über jenen Abend im Palais Augarten fiel streng aus und er beschrieb das „Komödiespielen“ des Adels als „Dilletieren“. Dem bürgerlichen Publikum solcher Vorstellungen unterstellte er „Snobismus“ als Motiv der Besuche, da die aristokratischen Gastgeber*innen im normalen Leben kaum mit Nicht-Adeligen zu tun haben wollten.

Die Geschichte mit dem Papagei

Ein Papagei dient Anke Charton als Ausgangsmotiv für die Korrektur eines problematischen Geschichtsentwurfes über das „goldene“ Theater-Zeitalter Spaniens, das „Siglo de Oro“. In den 1750er Jahren lebte die damals berühmte italienische Opernsängerin Vittoria Tesi samt eines in menschlichen Sprachäußerungen gut trainierten Papageis in Madrid. Als sie ihn während einer von ihr gegebenen Abend-Gesellschaft Kunststücke vorführen ließ, kamen anderntags Abgesandte der Inquisitionsbehörde und konfiszierten das arme Tier. Abergläubischen Gästen war dieses Treiben suspekt erschienen und sie hatten Tesi angezeigt. In Wien amüsierte diese Anekdote und man lachte als aufgeklärte Menschen über die Rückständigkeit der Spanier. Aber warum konnte dieser Vorfall eine dermaßen abschätzige Reaktion überhaupt auslösen? Denn schließlich müsste doch Spanien noch von seinem Ruhm im Zeichen des Siglo de Oro gezehrt haben, als im 16. Und 17. Jahrhundert ein genuin spanisches Theater so erfolgreich und legendär gewesen war.

Charton hinterfragt diesen Umstand und zeichnet nach, dass zu Zeiten von Tesis Papagei die spanische Linie der Habsburger bereits ausgestorben war, der Spanische Erbfolgekrieg seine Spuren hinterlassen hatte und das Verhältnis der österreichischen Habsburger zu Spanien nicht das allerbeste war. Und entgegen der aus kulturpolitischen Gründen nachträglich von Historiographen so überlieferten Einzigartigkeit des spanischen Theaters sei auch dieses, wie überall, stark von reisenden Theaterschaffenden beeinflusst worden. Auch Tesis Erfolg lässt sich aus der Beliebtheit der italienischen Opera seria in Spanien erklären. Übrigens kam sie auf Initiative des Kastraten-Sängers Farinelli und dessen Künstler*innen-Netzwerkes nach Madrid. Der gebürtige Süditaliener war ebenfalls als Intendant in Spanien erfolgreich, und dank seiner Intervention erhielt Tesi schließlich ihren Papagei wieder. 

Wandertruppen

Stefan Hulfeld räumt in „Practica est multiplex. Geschichten über die ersten Berufsschauspieler*innen im deutschsprachigen Raum“ mit dem Mythos der „Wandertruppen“ im 17. Jahrhundert auf. Zwar seien die Theaterleute damals tatsächlich viel gereist, aber nicht aus romantischen Gründen, sondern weil sie es mussten. Die Truppen waren ständig auf Achse und spielten an Höfen ebenso wie auf Jahrmarkts-Bühnen. Manche Truppen waren sehr erfolgreich, doch war ihr sozialer Status fragil, und besonders im vom dreißigjährigen Krieg gezeichneten deutschsprachigen Raum dauerte es noch einmal länger als anderswo, bis sich fixe Strukturen etabliert hatten. Die Komödiant*innen waren vielseitig, anpassungsfähig und in der Lage, jedem Publikum das zu bieten, was dieses wünschte – von Tragödien bis zu Burlesken, Musik, Tanz, Gesang, Eindeutiges und Doppelbödiges, Seriöses und Sinnliches.

Doch dann wollte ein aufgeklärtes Bürgertum im 18. Jahrhundert unter der Kuratel von Intendanten, Dramatikern und Gelehrten nur mehr moralisch Einwandfreies auf stehenden Bühnen sehen, und „dem Theater wurde justament das Theatrale ausgetrieben“ im Zeichen der „Naturnachahmung“. Einfühlung und Psychologie waren die neuen Postulate eines Kunst-Theaters, das auf die früheren Expert*innen für Phantasien aller Art mit ihrem vielseitigen Handwerk keinen Wert mehr legte. Ihnen setzt Hulfeld also ein Denkmal, um an „jenes Theater zu erinnern, das so wirkungsvoll die Brüchigkeit menschlicher Zivilisation auszuagieren wusste“.

Noch viele weitere spannende Neuigkeiten offenbaren sich in dem Lesebuch, und gern begleitet man die Autor*innen dieses Bandes auf ihren mikrohistorischen Streifzügen durch vergangene Theater- und Lebenswelten. In manchen Beiträgen wird die Schilderung expliziter Begebenheiten samt ihren Wendungen etwas zu detailreich und mehrsträngig, dass bisweilen die Gefahr besteht, als Lai*in den Fokus zu verlieren und derart die „Haupt-Message“ zu versäumen. Aber andererseits ist die Lektüre so reichhaltig, dass man die Texte sowieso am besten mehrfach liest. 

Stefan Hulfeld (Hg.) für die Arbeitsgruppe Historiografie der Gesellschaft für Theaterwissenschaft e. V.: Unerhörte Theatergeschichten. Ein Lesebuch. Hollitzer Verlag, 2022. 

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