Mit „Palucca. Ihr Leben. Ihr Tanz“ hat Ralf Stabel die Biografie der „Ikone des modernen Tanzes“ in Deutschland neu verfasst. Der Alexander Verlag wiederum legte die Autobiografie von Valeska Gert „Ich bin eine Hexe“ neu auf. Aus der Perspektive des Kritikers erschließt sich die Tanzgeschichte in einem Sammelband mit Klaus Geitels Tanzkritiken von 1959-1779: „Man ist kühn genung, um unmodern zu sein“.
Valeska Gert: „Ich bin eine Hexe“
Valeska Gert beschreibt ihr Leben so, wie sie wohl auch gelebt hat: dynamisch, spontan, unkonventionell. Die in Berlin 1892 als Kind einer jüdischen Familie Geborene war eine Grenzgängerin. Sie war Tänzerin und Schauspielerin in Theater und im Film, suchte nach neuen Ausdrucksformern und nannte ihre expressiven Tänze „Pantomimen“ und sah sich als Antipode zur berühmtesten Tänzerin ihrer Zeit, Mary Wigman. „Ihr gelang es nur, wie manchen ‚Abstrakten‘, das Klare zu verwirren, anstatt das Verwirrte zu klären“, schrieb sie. „Der Durchschnittsdeutsche hat wenig Selbstvertrauen. Er hält für groß, was er nicht versteht. Sich bei einem Kunstwerk zu amüsieren, erscheint ihm minderwertig. Langweilen muss man sich, dann hat man etwas für seine Bildung getan.“
Valeska Gert aber nannte und zeigte die Dinge beim Namen und löste damit so manchen Skandal aus. Als die Nazis an die Macht kamen, war alles aus. Gert versuchte einen Neuanfang in Paris und England und scheiterte, da sie immer noch hoffte, nach Berlin zurückkehren zu können. 1938 nahm sie schließlich ein unsicheres Engagement in den USA an. „Mir war alles egal, ich wollte jetzt weg. So weit war ich endlich, jetzt, im Dezember 1938.“ Es gelang ihr dort jedoch nicht Fuß zu fassen, bis sie sich schließlich 1941 in New York ein Restaurant mit einem Nachtclub eröffnete, wo sie auch wieder auftrat. Die „Beggar Bar“ wurde zu einem der legendären Szene-Lokale seiner Zeit zählte. Gert kehrte 1947 wieder nach Berlin zurück, gründete dort das Kabarett „Hexenküche“, wo sie mit ihrer Verkörperung von Ilse Koch, eine für ihre Grausamkeiten berüchtigten KZ-Kommandantin, die 1949 verurteilt wurde, Aufsehen erregte. An ihre früheren Erfolge konnte sie nicht anschließen und sie schrieb: „Für die Nazis war ich wenigstens ein Feind, für die heutigen Deutschen bin ich nichts. Man weiß nur noch, dass Mary Wigman den neuen deutschen Tanz geschaffen hat, von mir weiß man nichts.“
Am Eindringlichsten beschrieb wohl Klaus Geitel das Phänomen Valeska Gert: „Man nannte sie zunächst, in den Gründerjahren des Freien Tanzes, eine Grotesk-Tänzerin. Aber George Grosz war schließlich auch kein Grotesk-Zeichner. Er zeichnete Realitäten und Gert tanzte sie. Später, als aus der Emigration nach Berlin zurückkehrte und sich im Keller der Städtischen Oper etablierte, dort ihr Babygreinen hören ließ, ihre japanischen Grunzdramen, ihre monokelblitzenden Songs aus dem alten Potsdam, ihre Monte-Carlo-Souvenirs abgetakelter Spielerinnen, beschwor sie im Alleingang die Welt der zwanziger Jahre, lange bevor sie wieder nostalgisch in Mode gekommen waren.“ (In: Die Welt, 10. Januar 1975)
1951 übersiedelte Valeska Gert auf die Insel Sylt, gründete dort den „Ziegenstall“, in dem die Kellner auch das Abendprogramm bestritten, sie selbst aber nicht mehr auftrat. Dafür wirkte sie in Filmen von Federico Fellini, Rainer Werner Fassbinder, Werner Herzog und Volker Schlöndorff mit, der auch eine Dokumentation mit ihr drehte, in der sie selbst über ihr Leben erzählte und einige Tänze zeigte. 1987 starb Valeska Gert 86-jährig in Berlin.
„Ich habe keine Kinder; meine Tänze haben die Tänzer der ganzen Welt beeinflusst, sie wissen es nicht. Ich will leben, auch wenn ich tot bin. Darum habe ich dieses Buch geschrieben.“ Und so waren es auch die Verlage, die Valeska Gert vor dem Vergessen entrissen und ihre Autobiografie in hohen Taschenbuchauflagen herausbrachten und damit TänzerInnen zur Auseinandersetzung mit ihrem Werk motivierten. Bis heute.
Der Reprint wurde nun mit einigen Abbildungen, einem Nachwort von Frank-Manuel Peter und einem Personenregister ergänzt.
Valeska Gert: „Ich bin eine Hexe. Kaleidoskop meines Lebens“. Alexander-Verlag Berlin 2019
Ralf Stabel „Palucca. Ihr Leben. Ihr Tanz“
Valeska Gerts Zeitgenossin Gret Palucca, 1902 in München geboren, war ein völlig anderes Kaliber. „Wer war diese Frau – Genie, Heldin, Tyrannin?“, die trotz ihrer jüdischen Herkunft von den Nazis geduldet und später auch das Katz- und Maus-Spiel mit den kommunistischen Machthabern in Ostdeutschland gewann, fragt Autor Ralf Stabel in seinem Vorwort. Sie war in klassische Ballett bei Heinrich Kröller ausgebildet, und obwohl sie dann ihre Meisterin im modernen Tanz bzw. in Mary Wigman fand, war es in ihren Körper eingebrannt: ihre Sprungtechnik basiert auf der Ballettschulung und für sie wurde sie berühmt. Ihre Ausbildung bei Wigman endete nach drei Jahren mit einer Trennung, denn die künstlerische Vision der beiden war wohl inkompatibel: „Denn ist die Wigman der Wille, und in allem nur der Wille, so ist die Palucca die Tat. Ist Wigman die erdachte und erkämpfte Idee, so ist die Palucca die glückliche geglückte Vollbringung […] Kurz, ist die Wigman die geborene Propagandistin und Lehrerin, so ist die Palucaa die geborene Tänzerin. Ist die Wigman nichts als Intelligenz, so ist die Palucca eine Natur“, schrieb ein Kritiker nach einem Konzert der Wigman-Truppe, aus der Palucca derart herausstach. Und so wird sie als eine Vertreterin des Ausdruckstanzes in die Geschichte eingehen, deren Spezialgebiet das leichte, heitere Fach war.
Als Solotänzerin machte sie sich bald einen Namen. „Serenata“ von Albéniz, das in einer rekonstruierten Fassung bis heute an der Palucca Schule Dresden aufgeführt wird, wird zu einem ihrer Markenzeichen, von dem 1934 auch ein Film entsteht. Die Karriere der damals 32-jährigen wird auch durch eine Monografie gepusht. „Die Tänzerin Palucca“ wurde von Olaf Rydberg verfasst, doch wer hinter diesem Namen stand, wurde erst in den 1980er Jahren aufgedeckt. Es war ihr Freund Will Grohman, der auch bei den Nazis eine Sondergenehmigung erreichen konnte, mit der die Halbjüdin Palucca weiterhin mit Einschränkungen auftreten konnte, unter anderem mit einem Solo bei den Olympischen Spielen in Berlin 1936. Ihre 1925 gegründete Palucca Schule Dresden wird 1939 geschlossen. Unmittelbar nach dem Krieg eröffnet sie in der damaligen sowjetischen Zone eine neue Schule, und engagiert dort wieder viele ihrer früheren MitarbeiterInnen. Auch ihre Tanzkonzerte bestreitet sie mit Stücken, die vor Inkrafttreten des Berufsverbotes 1944 entstanden. „Es ist weder die Stunde Null noch der Neubeginn – im Sinne des Beginnens mit Neuem“, schreibt Stabel.
Doch nun „wird das Unterrichten, der Auf- und Ausbau der Schule zum Lebensmittelpunkt“. 1950 wird ihr von der DDR der Auftrag erteilt in Berlin eine Deutsche Hochschule für Tanz aufzubauen. Sie zieht sich dann aber von dem Projekt und nach Dresden zurück, nachdem die Bezeichnung „Staatliche Schule für neuen künstlerischen Tanz, Ballett und Gymnastik“ lauten sollte. Es war das Ballett, das sie nicht vertreten wollte. Doch in diese Richtung drängten die Machthaber und verhalfen ihr auch an der Palucca Schule Dresden zum Durchbruch, als sie die Privatschule verstaatlichten. Der Neue Künstlerische Tanz, ein Begriff, den Palucca für den in der DDR verfemten „Ausdruckstanz“, einführt, wird im Stundenplan nur noch marginale Bedeutung für die Berufsausbildung von TänzerInnen und TanzpädagogInnen beigemessen. Die neuen kulturpolitischen Richtlinien für den Tanz lauten: „Sozialistischer Realismus heiße nach Stalins Charakterisierung: sozialistisch im Inhalt und national in der Form […] Die meisten Forderungen kennt Palucca schon. 1935 hatte die Reichstheaterkammer Ähnliches von ihr verlangt. Auch die Nationalsozialisten hatten den klassischen Tanz und den Nationaltanz angewiesen.“
Und doch wollte die SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) Palucca, die immer wieder mit einer Emigration in den Westen liebäugelte und/oder drohte, in Dresden halten. Man bestellte sie wieder zur künstlerischen Leiterin der Palucca Schule Dresden. Gleichzeitig setzte das Ministerium für Staatssicherheit (Stasi) seine Überwachungsmaschinerie in Gang, die bis zum Ende der DDR anhält. „Doch Palucca versteht es, ihr Privatleben gut unter Verschluss zu halten, vieles bleibt für die Stasi im Dunkeln.“ Nach der Wiedervereinigung ist Gret Palucca nur noch sporadisch in der Schule. Sie stirbt 1993 im Alter von 91 Jahren.
Ralf Stabel legt mit seiner reich bebilderten Monografie ein sehr differenziertes Portrait der großen Tänzerin und Tanzpädagogin des 20. Jahrhunderts vor. Die künstlerische Arbeit steht nicht nur im Mittelpunkt der Protagonistin, sondern auch für den Autor, der die Dialektik zwischen der Künstlerin und der Pragmatikerin, die sich gleich mit zwei autoritären Systemen zu arrangieren vermochte, so anschaulich beschreibt. Wie jedes Buch von Ralf Stabel ist auch „Palucca“ eine erhellende Lektüre, nicht nur über die Person, sondern über ihre Zeit.
Ralf Stabel „Palucca. Ihr Leben. Ihr Tanz“, Henschel Verlag, Leipzig, 2019
Klaus Geitels Tanzkritiken 1959-1997: Man ist kühn genug, um unmodern zu sein.
Der vorliegende Band liefert zwei Jahrzehnte Tanzgeschichte anhand der Tanzkritiken eines der wortgewaltigsten Rezensenten im deutschen Sprachraum: des Musik- und Tanzkritikers der Zeitung Die Welt, Klaus Geitel (1924-2016).
Nicht nur in der DDR auch in der BRD war das Ballett nach dem zweiten Weltkrieg im Vormarsch, schrieb Geitel 1960: „… eine nicht abreißende Invasion internationaler Ensembles [setzte] ein, die das deutsche Publikum mit der Kunst des klassischen Balletts konfrontierten. Die vier Großmächte, die sich in die Besetzung Deutschlands geteilt hatten, erwiesen sich alle vier auch als Großmächte des Balletts. Sein Stern begann unaufhaltsam zu steigen. Der ‚deutsche Tanz‘ kämpfte dabei auf verlorenem Posten. […] Das Ballett, das einst in Deutschland mehr oder weniger dahinvegetiert hatte und nie ganz für voll genommen worden war, genoss von allen Seiten wohlwollende Förderung. Subventionen flossen ihm auf dem Umweg über die Theateretats in reichem Maße zu. Der ‚freie Tanz‘ blieb frei – auch von Subventionen.“.
Doch die 1960er und 70er Jahre waren auch eine aufregende Zeit zwischen Tradition und Erneuerung. Es sind die Jahre des Stuttgarter Ballettwunders, der nunmehrige Hamburger Langzeit-Ballettchef John Neumeier gab als Ballettdirektor in Frankfurt sein Debut (1971), Pina Bausch etablierte sich in Wuppertal als Theaterrevolutionärin. Die damals jungen Ballettcompagnien Deutschlands würdigte Geitel mehr oder weniger positiv in seinen Ausführungen. Er machte die Wirkung von Béjart, Nurejew, Pina Bausch erlebbar, schrieb über Gastspiele – Merce Cunningham, Alvin Ailey, Antonio Gades und viele, viele mehr – sowie Initiativen, die den neu aufflammenden Freien Tanz in den Mittelpunkt stellten ebenso wie über die großen Klassiker. Geitels Kritiken sind informativ und unterhaltsam, wertend, aber nie tendenziös, hart, aber nie respektlos.
Der Buchtitel „Man ist kühn genug, modern zu sein“ ist übrigens ein Satz, den Geitel nicht auf sich selbst bezog, sondern auf das Repertoire des Königlich Dänischen Balletts.
Der Band umfasst neben den Tanzkritiken ein Vorwort des Herausgebers Frank-Manuel Peters, ein Interview mit Geitel sowie ein Personenregister.
Frank-Manuel Peter / Thomas Thorausch (Hg.) „Klaus Geitels Tanzkritiken 1959-1997: Man ist kühn genug, um unmodern zu sein“, Henschel Verlag, Leipzig, 2019
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Ich bin eine Hexe: Kaleidoskop meines Lebens Palucca: Ihr Leben, ihr Tanz »Man ist kühn genug, um unmodern zu sein«: Klaus Geitels Tanzkritiken 1959-1979