100 Statements, 100 Images von 100 ChoreografInnen. Herausgeber Johannes Odenthal hat mit den Co-AutorInnen Gabriele Brandstetter, Franz Anton Cremer und Madeline Ritter für „Das Jahrhundert des Tanzes“ keinen chronologischen Ansatz gewählt. Die Publikation listet in alphabetischer Reihenfolge künstlerische Positionen, die die Tanzgeschichte seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute geprägt haben.
Das Buch entstand im Rahmen der Ausstellung „Was der Körper erinnert“, die von Ende August bis Ende September in Berlin zu sehen war mit Leihgaben der Tanzarchive aus Köln, Leipzig, Bremen und Berlin. Dazu gab es ein reichhaltiges Programm mit Performances, Lectures und Gesprächen. Auftraggeber war neben dem Ausstellungsort, der Akademie der Künste Berlin, die Agentur Ritter + Diehl, Projektleiter der Fördereinrichtung „Tanzfonds Erbe“. Dieser wird im Buch abschließend vorgestellt.
Die Auswahl richtungsweisender KünstlerInnen der Tanzmoderne bis zum Bruch durch das Nazi-Regime ist heute durch einen fundierten Forschungsstand legitimiert. Die meisten der PionierInnen der neuen Tanzkunst im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und der namhaften VertreterInnen des (deutschen) Ausdruckstanzes finden daher auch im Buch ihren Niederschlag. Von den Folgen des autoritären, mörderischen Regimes und des Holocaust hat sich die Gesellschaft in Deutschland und Österreich in der Nachkriegszeit bekanntlich nur langsam erholt. Erst in den 1980er Jahren wurde dem Tanz in der Kunst- und Kulturlandschaft ein Platz zuerkannt, nicht zuletzt aufgrund der „Wiederentdeckung“ des Körpers durch Philosophen und Psychologen.
Im umfassenden und internationalen Sinne, in dem das zweisprachige (deutsch / englische) Buch konzipiert ist, hat man versucht KünstlerInnen aus aller Welt miteinzubeziehen wie Koffi Kôkô (Benin), Ea Sola (Vietnam) oder Ismael Ivo, auch wenn im Fall Brasiliens Paulo Pederneiras einen weit größeren Impakt für den künstlerischen Tanz leistete und nicht vorkommt. Der postkoloniale Anspruch berücksichtigt also jene, die im europäischen (experimentellen) Tanzbetrieb anerkannt sind. Im letzterem wiederum fehlen prägende Namen der letzten 20 Jahre wie Sidi Larbi Cherkaoui, Akram Khan, zwei der prominentesten Vertreter mit einem interkulturellen Background; Wayne McGregor, der sich bei seinen künstlerischen Arbeiten mit den Neurowissenschaften verbündet; Doris Uhlich oder Olivier Dubois, die dem nacktem Körper im Tanz eine neue Bedeutung geben oder Mourad Merzouki, der den Break-Dance und damit eine der gesellschaftlich relevantesten Tanzentwicklungen des 20. Jahrhunderts erfolgreich bühnentauglich machte.
Eine Unterscheidung zwischen Tanzmoderne und zeitgenössischem Tanz und Performance wird in dem Buch nicht getroffen. Die mannigfaltigen Einflüsse aus HipHop, ethnischem oder Gesellschaftstanz oder aus den Martial Arts auf den Tanz der Gegenwart werden ausgeklammert. Vielmehr scheint es die Absicht der AutorInnen zu sein, zeitgenössischen Tanz als eine geradlinige Weiterschreibung der Tanzmoderne darzustellen. Da aber der Tanz und die Kunst immer ein Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse einer Zeit sind, ist diese Zuordnung kaum haltbar.
Wenn man sich auf eine Zahl festlegt, sind Unterlassungen natürlich zwangsläufig eingepreist. Dennoch ist es schade, dass bei der groß angelegten Thematik nicht auch Standpunkte berücksichtigt werden, die jene Aspekte, die in der Diskussion um den zeitgenössischen Tanz immer wieder zu kurz kommen, berücksichtigen. Denn: „… jede Gegenwart konstruiert ihre eigene Vergangenheit“, schreibt Odenthal in der Einleitung zum Buch und verknüpft die getroffene Auswahl der vorgestellten ChoreografInnen mit ihrem „emanzipatorischen und revolutionären Ansätzen in der Tanzgeschichte“.
„Ein Jahrhundert des Tanzes. Ein Reader“ ist ein hilfreiches Nachschlagewerk zu 100 einzelnen künstlerischen Positionen. „Die Vergangenheit der Gegenwart“ wird dabei aber aus einem eingeschränkten Blickwinkel geschrieben.
Johannes Odenthal (Hg..): „Das Jahrhundert des Tanzes / The Century of Dance. Ein Reader / A Reader“, Alexander Verlag, Berlin, 2019
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Das Jahrhundert des Tanzes / The Century of Dance: Ein Reader / A reader