Wenn’s doch ein Teil der Hannoveraner Karnevalssaison gewesen wäre! Ein Vorspiel auf dem Theater, eine Woche vor dem Umzug der Narren durch die Stadt. Mit dem Choreografen und der Journalistin als Verbündete und Hauptdarsteller einer heimlichen Inszenierung, mit der gemeinsamen Mission, dem Tanz im Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Relevanz Gutes zu tun. Dann wäre nun über die Qualität der Aufführung zu urteilen. Leider aber war’s nicht Spiel, sondern tieftrauriger Ernst, was sich am 11. Februar 2023 im Foyer der Staatsoper Hannover ereignete.
Über Mist als Waffe ließe sich schreiben, befänden wir uns gedanklich auf einem Bauernhof. Eine Jagdszene böte den Ausweg, von „Losung“ zu berichten und ihrem – wenn auch befremdlichen - Einsatz. Damit würde der Vorgang, um den es geht, nicht weniger drastisch, nicht weniger abstoßend - doch immerhin seine sprachliche Darstellung. Das Biotop aber, in dem Marco Goecke Wiebke Hüster nachstellte und demütigte, ist weder in der Landwirtschaft noch auf Waldlichtungen zu finden. Die Szene ist vielmehr das Theater. Jener Ort, an dem Bilder, Worte, Metaphern und Symbole die eigentliche Tat und Handlung ersetzen - und eben dadurch Wirkmacht entfalten. An diesem Ort des Als-ob, des zivilen und zivilisierten Umgangs miteinander, lässt sich das Gegenteil des Als-ob nicht sprachlich beschönigen: Es geht um Hundekot, den ein Choreograf und Ballettdirektor einer Tanzkritikerin meinte ins Gesicht schmieren zu dürfen.
Nach allem, was nicht Dabeigewesene bislang wissen können, spielte sich die bizarre Szene so ab: In der ersten Pause der Premiere eines neuen Tanzabends stellt Marco Goecke im Foyer der Staatsoper Hannover Wiebke Hüster, die Tanzkritikerin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ), zur Rede. Grund: Hüsters angeblich über Jahre hinweg zu „persönliche“ Kritiken, durch die er, Goecke, sich als Mensch verletzt fühle. Und am Ende einer sich rasch ins Lautstarke steigernden Auseinandersetzung greift Marco Goecke zu einer Tüte Hundekot und schmiert deren Inhalt Wiebke Hüster ins Gesicht. Es folgt ein Schrei der entsetzten Kritikerin, Hauspersonal hilft ihr, sich zu reinigen, bevor sie zur nächsten Polizeistation geht, um Anzeige zu erstatten, während die Vorstellung in der Staatsoper weiterläuft und wie geplant mit einem Stück Goeckes endet.
Schon tags darauf, an einem Sonntag (von dem an der Vorfall in den Medien, den tatsächlichen wie den „sozialen“, hohe Wellen schlägt, weltweit), distanziert sich das Theater schriftlich von seinem Ballettdirektor, kündigt die Prüfung disziplinarischer Schritte an. Am Montag suspendiert es Goecke von seinen Aufgaben und erteilt ihm Hausverbot. Am Mittwoch lädt es kurzfristig für Donnerstag zu einer Pressekonferenz – und lässt durch die distanzierende Formulierung, es gehe dabei um „das Thema Marco Goecke“, schon ahnen, was dabei bekannt gegeben werden dürfte.
Marco Goecke seinerseits gibt am Montag ein Fernsehinterview und veröffentlicht am Dienstag auch eine schriftliche Stellungnahme. Beide nutzt er freilich dazu, nicht etwa um Entschuldigung zu bitten, sondern, wie es die Selbstgerechten tun, „sich“ zu entschuldigen - und eine Rechtfertigung anzufügen, in der er das Bild einer, seiner sensiblen Künstlerseele malt, die nach (angeblich) zwanzig Jahren der (angeblichen) verbalen Bewerfung mit Kot durch Wiebke Hüster „genug“ davon hatte und ihn seinerseits zur symbolischen Handlung drängte.
Doch Goecke hat Unrecht. Mit seinem Tun. Mit seinem (Miss-)Verständnis von Symbol und Tat. Mit seiner Entschuldigung, die keine ist. Mit seiner Erzählung über Wiebke Hüsters Goecke-Kritiken (die, laut Hüsters eigener Inventur, in 17 Jahren neun Mal über Werke Goeckes urteilten: sieben Mal negativ, zweimal lobend, über „Der Liebhaber“ von 2021 sogar höchst überschwänglich lobend). Goecke liegt nicht zuletzt mit seiner Sicht auf Kritik grundfalsch, deren Grenzen er offenbar für identisch hält mit dem Punkt, an dem seine persönliche Empfindsamkeit berührt wird. Die Freiheit der Kritik indes - samt der Freiheiten, die sie sich nimmt, aus gutem Grund nehmen darf – ist der Freiheit und den Freiheiten der Kunst eng verwandt. Beide bedingen einander.
Und da Marco Goecke in seiner Rechtfertigung auch „Geschäftsschädigung“ durch Wiebke Hüsters Kritik meinte anführen zu können, sei darauf hingewiesen: Gerade in einer Gesellschaft, die sich die Freiheit der Kunst viel kosten lässt, weil sie ihr wichtig ist als ein Eckpfeiler der Freiheit der Gesellschaft insgesamt, und die Mittel aufbringt, um Künstler wie Marco Goecke davon entbinden zu können, Geschäftsmann oder -frau sein zu müssen – gerade in einer solchen Gesellschaft ist die Freiheit der Kunst ohne die Freiheit der Kritik nicht denkbar. In einer solchen Gesellschaft müssen Künstler Kritik aushalten können. So wie die Gesellschaft, derer die Kritik nur ein Teil ist, die Kunst aushalten können muss.
Doch ob es wirklich das ist, worum es in dem Stück, das sich vor unser aller Augen gerade abspielt, geht? Ob hinter dem Offensichtlichen nicht noch etwas ganz Anderes lauert? Womöglich nämlich die Überforderung eines Künstlers, vielfach gelobt, hofiert und zum Genie erkoren, international gefragt, heute hier, morgen dort, nirgends so recht zu Hause, vielleicht nicht einmal bei sich selbst – und der sich vor drei Jahren zu all dem Überfluss, all der Anstrengung, die mit Erfolg einhergeht, auch noch die Verantwortung für ein Ensemble und dessen Tänzerinnen und Tänzer aufbürdete?
Goecke wäre jedenfalls nicht der erste Choreograf, den das Direktor-Sein von seinem eigentlichen Wollen – Kunst zu schaffen – mehr entfernt als dass es ihm zusätzliche Möglichkeiten eröffnet hätte. Goeckes Kontrollverlust würde dadurch nicht entschuldbar – aber ein Stück weit weniger befremdlich. Es ist immerhin der Kontrollverlust eines Künstlers, dessen Stil und Ästhetik man nicht mögen, nicht für genial halten muss, um zu erkennen, dass da ein Mensch mit Seele und Gefühlen, beides vielleicht höchst verletzlich, vielleicht tief verletzt, zu Werke geht. Was im Foyer der Staatsoper Hannover geschah, war womöglich der Kontrollverlust eines Menschen, der sich von tiefer gründenden Dingen bedrängt fühlt als nur jenen, mit denen er sein Maß, Mitte, Menschlichkeit und Respekt leugnendes Handeln vor sich und anderen zu rechtfertigen sucht.
Das Menschliche ist die eine Seite der Ereignisse. Die andere nötigt der Staatsoper Hannover bittere, nachvollziehbare Entscheidungen ab: Am Donnerstag, fünf Tage nach dem Vorfall, verkündet sie die unmittelbare Trennung von Marco Goecke als Ballettdirektor. Das Ensemble, von Goecke geformt, wird mindestens bis Sommer 2024 unverändert existieren, heißt es, und wird die Werke Goeckes, die bereits zu seinem Repertoire gehören, weiter zeigen, aber keine neuen herausbringen – wobei, auch das bemerkenswert und womöglich ein weiteres Indiz in Richtung „Überforderung“, schon zuvor für die kommende Spielzeit keine Goecke-Schöpfung geplant gewesen sei.
Und Wiebke Hüster? Man fühlt mit ihr – was sonst! -, wünscht ihr Gutes, sorgt und vermag sich nicht vorzustellen, ob und wie man selbst eine Demütigung und Entwürdigung, wie sie ihr widerfahren ist, zu verarbeiten in der Lage wäre. Am Dienstag zeigt und gibt sich Hüster in einem Interview als Studiogast der „Kulturzeit“ in 3Sat wohlauf und gewillt, den Angriff nicht zu nah an sich heranzulassen – doch wirkt dabei – was Wunder! – dennoch angegriffen. Sie werde sich nie wieder ein Werk von Goecke ansehen, sagt sie - und ahnt vermutlich mit uns, dass ihr Name und der von Marco Goecke dennoch auf lange, lange Zeit und auf hässliche Weise miteinander verbunden bleiben werden.