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GrigorowitschEin der Statur nach feingliedrig und eher klein wirkender Mann, überkorrekt mit kariertem Schal und bis zum letzten Knopf darüber streng hochgeknüpftem grauem Mantel bekleidet und solchermaßen gelassen, doch mit festem Rücken in einem Sessel hinter Bergen von Kostümen ruhend einen starken Kontrast zur charmefreien Umgebung einer Sologarderobe der Halle E im Wiener Museumsquartier bildend, der uns beim Verlassen des Raumes lächelnd zunickte und die Hand zum Gruß hob – so blieb mir meine letzte persönliche Begegnung mit Juri Grigorowitsch (2. Jänner 1927 – 19. Mai 2025) in Erinnerung.

Nichts an diesem Mann, der in seiner unbequemen Ecke von den allermeisten, die geschäftig zum Vorstellungsabbau aus- und einhasteten, gänzlich unbeachtet blieb und sichtlich keinen Wert darauf legte, von jungen Bühnenarbeiter:innen oder anderen erkannt zu werden, ließ in diesem Moment vermuten, dass ein „Gigant der sowjetischen Choreographie“, der nach laut nachhallenden Anfängen beim Kirow-Ballett in Leningrad/St. Petersburg seit 1964 die Zügel des Moskauer Bolschoi zunächst als Chefchoreograph und ab 1988 zudem als dessen künstlerischer Direktor fest in Händen hielt, ehe er – so wurde gemunkelt – 1995 angeblich von Boris Jelzin persönlich entmachtet wurde, zugegen war. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war Grigorowitsch auch als Leiter (1991 – 1994) des „The Bolshoi Theatre – The Yuri Grigorovich Studio“ bzw. in diversen langjährigen Funktionen an der Moskauer (und zuvor Leningrader) Ballettakademie quasi omnipräsent. Der 1995 erfolgte Wechsel an der Spitze der Bolschoi-Truppe (Nachfolger wurde damals eine weitere „sowjetische Ballettlegende“ Wladimir Wassiljew) hielt Grigorowitsch jedoch trotz fortgeschrittenen Alters nicht davon ab, mit dem Ballett-Theater Krasnodar (dessen Direktor er ab 1996 war) Tourneen nach Wien (2006) oder weit andershin zu unternehmen, bei zahlreichen Ballettwettbewerben (wie dem Prix Benois de la Danse, Serge Lifar, den internationalen Wettbewerben in Varna, Moskau, Sotschi oder Lausanne etc.) als Juror zu wirken und sich 2008 postwendend wieder als Choreograph am Bolschoi installieren zu lassen. 

Als Absolvent (1946) der Leningrader Ballettakademie startete er seine Karriere als tänzerisches Mitglied des Ensembles, machte sich jedoch vor allem mit seiner Neufassung von „Die steinerne Blume“ (1957) zur Partitur von Sergej Prokofjew (1891 – 1953, op. 118), der 1954 in Moskau zuvor kein überwältigender Erfolg bei deren posthumen Uraufführung gegönnt gewesen war, einen frühen Namen: Die „Grigorowitsch – Fassung“ bildete sodann den weiteren Aufführungs-Standard des Werkes, der ans Bolschoi rückübernommen bzw. auch (mit weiteren Umarbeitungen) ab 1962 vom Royal Swedish Ballet gezeigt wurde und so seinen Weg über den „Eisernen Vorhang“ fand. So auch nach Wien, wo bereits 1959 beim Gastspiel der Kirow-Truppe anlässlich der siebenten Kommunistischen Weltjugendfestspiele im Raimundtheater Ausschnitte zu sehen waren. Mit der 1961 vom Kirow-Ballett uraufgeführten „Legende von der Liebe“ zur Musik von Arif Melikow (1933 – 2019) entstand ein weiterer Grigorowitsch-Abendfüller, der zu einem Standardwerk bzw. „Hit” avancierte und den Begriff „nach Petipa wiedergefundener sinfonischer Tanz“ etablierte. Im Gefolge dieser beiden “Knüller” stieg Grigorowitsch am Kirow zum Hauschoreographen auf (1961 – 1964), was seine weitere Karriere nachhaltig begründete.

Unter seinen in der Folge für das Moskauer Ensemble entstandenen Choreographien bzw. choreographischen (Neu-)Fassungen seien “Der Nussknacker” (1966; von 1973 bis 1997 in einer Neuinszenierung mit insgesamt 125 Vorstellungen auch ein heißgeliebter und bis heute im Anschluß von vielen im Publikum vermisster „Weihnachtsstandard“ an der Wiener Staatsoper!), „Iwan der Schreckliche“ (1975), „Angara“ (1976), „Romeo und Julia“ (1979), „Das Goldene Zeitalter“ (1982), „Dornröschen“ (1963, 1973), „Schwanensee“ (1969, 2001), „Raymonda“ (1984, 2003), „Giselle“ (1987), „La Bayadère“ (1991) und „Le Corsaire“ (1994) bzw. „Don Quixote“ (ebenfalls 1994) genannt.

Unvollständig wäre diese Liste ohne seinen wohl größten choreographischen Erfolg und Beitrag, der dem so genannten „Bolschoi-Stil“ der Choreographie, insbesondere im Hinblick auf Athletik und Kraftentfaltung im Männertanz, maßgeblich Gesicht verlieh: Mit „Spartakus“ schuf er 1968 eine dreiaktige Moskauer Version des Balletts, die – quasi eine Wiederholung der Geschichte – sich ebenso als weiterer internationaler Standard etablieren konnte wie zuvor die „Steinerne Blume“ und die 1956 in Leningrad entstandene Jakobson-Uraufführungschoreographie damit verblassen ließ. „Spartakus“ revoltierte auch in Österreich: Bei Gastspielen an der Wiener Staatsoper, im Theater an der Wien und an der Oper Graz waren ab 1965 im Laufe der Jahre an abendfüllenden Produktionen "Legende von der Liebe", "Spartakus", "Dornröschen", "Romeo und Julia" und "Das Goldene Zeitalter" zu sehen. „Spartakus“ war auch jenes Werk, mit dem das Wiener Staatsballett im Zuge der „Nurejew Gala 2017“ in Form eines Ausschnitts (Pas de deux), getanzt von den Gästen Maria Shirinkina und Vladimir Shklyarov, Grigorowitsch anlässlich dessen damals 90. Geburtstags seine Reverenz erwies. 

Ähnlich wie Marius Petipa (Stichwort „Schwanensee”) war es Grigorowitsch damit gegeben, mit seinen Versionen „Klassikern“ des Repertoires zu ebendiesem dauerhaften Klassikertum zu verhelfen.

Zeitlebens hoch dekoriert, darunter Volkskünstler der UdSSR (1973), verstarb mit Grigorowitsch ein Architekt des sowjetischen bzw. russischen Balletts, dessen Größe und Tragik es war, die von Petipa und weiteren übernommenen Traditionslinien selbst umfassend erneuert zu haben, um im Laufe seiner langen und kulturpolitisch in der Sowjetunion beispiellosen Karriere von den umfassenden und sich beständig beschleunigenden Neuerungsbestrebungen und radikalen Umwälzungen des Balletts als Kunstform wie gesellschaftlichen Entwicklungen selbst überholt zu werden. In jedem Fall bildete er eine „ästhetische Konstante“, die das sowjetische Ballett sicher durch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts steuerte und wesentlich zum Überleben des abendfüllenden Handlungsballetts als Gattung beitrug. Die Turbulenzen, die das Moskauer Bolschoi Ballett nach seinem Abgang im Jahr 1995 auf Direktionsebene für mehrere Jahre erfassten, sprechen im Hinblick auf diese seine stabilisierende Wirkung, die zweifellos für manche Beteiligte (wie mir etwa Maja Plissezkaja persönlich anvertraute) auch ein „Zuviel“ erreichen konnte, eine überdeutliche Sprache. Seine Biographie ist zudem unauflöslich mit dem zeitgeschichtlichen Panoptikum verwoben, das – indem es ihn oftmals in einem Atemzug mit seinen Gattinnen Alla Schelest (1919 – 1989; 1949 gastierte diese sogar nicht nur im Wiener Konzerthaus sondern auch in Wiener Neustadt und Linz), bzw. nach Scheidung ab 1968 Natalia Bessmertnowa (1941 – 2008) zu einer sowjetischen choreographischen Ikone stilisierte – über lange Zeit eine objektive Sicht und Bewertung seiner choreographischen Fähigkeiten und Errungenschaften an sich verstellte. Im Zuge gegenwärtiger geopolitischer Entwicklungen sollte dies ein mahnendes Beispiel bilden und Ballett eben nicht als kulturelle Waffe, sondern als ein Medium der friedvollen und unpolitischen Begegnung und ein damit offenbleibender Weg der künstlerischen wie interkulturellen Kommunikation, auch dort wo keine Kommunikation mehr möglich scheint, verstanden werden.

Die überlebensgroß inszenierte dramatische Geste, der hoch virtuose, riskante und kraftvolle Männertanz im Verbund mit spektakulär-gewagten Hebefiguren, effektvolle Massenszenen, Tendenz zur erotisch aufgeladenen Körpersprache speziell im Pas de deux und die von Petipa übernommene Bevorzugung von und Begeisterung für Elemente des Volkstanzes, wie etwa aus dem Kaukasus, sind zentrale Elemente, die von Grigorowitsch bleiben werden und – möglicherweise – in wenigen Jahren auch wieder ein Revival durch neu am abendfüllenden Repertoire orientierten Choreographien erfahren werden, denn der „Juri-Mix“ hat theatralische Wucht und funktioniert auf der großen Bühne. 

Wissenschaftlich wird sein choreographisches Erbe somit aus der Distanz noch aufzuarbeiten und final zu bewerten sein, im Hinblick auf das Repertoire dürften „Spartakus“ und die „Legende von der Liebe“ zumindest am Sektor Ballettgala den Namen Grigorowitsch global noch viele Jahre in Erinnerung halten.