Pierre Lacottes Karriere begann als klassischer Tänzer. Dann zog der ehemalige Premier Danseur der Pariser Oper aus, um die Tanzmoderne zu entdecken. Heute sieht er darin eher eine Jugendsünde: „Ich war immer ein klassischer Tänzer, aber es war das Alter, das Alter der Rebellion. Ich war wie alle Jungen, die etwas anderes machen wollen als Papa und Mama …“
„… Als ich Robbins und Agnes de Mille sah, war ich auch sehr interessiert an der Zukunft des Tanzes. Wie alle Jungen wollte ich zeitgenössisch tanzen, aber im Grunde war ich ein durch und durch klassischer Tänzer. Der Ausflug ins Zeitgenössische war, als ob man sich etwas von seiner Familie entfernen will, um eine neue Familie zu suchen. Aber ich war zum klassischen Ballett berufen,“ meint Pierre Lacotte im Interview.
Die Beschäftigung mit Tanzgeschichte begleitet Lacotte seit seinen Anfängen als Balletteleve, er findet sie „fantastisch, denn man ist Teil einer Familie. Es bedeutet, dass etwas vor mir war, dass man ein Gefühl dafür bekommt, was vorher war.“
Für den 79-jährigen bedeutet „La Sylphide“ die größte Herausforderung und „die größte Liebe. La Sylphide hat mein Leben total verändert. Ich habe einen Traum realisiert. Einen Kindheitstraum, denn bereits mit zehn Jahren habe ich in der Bibliothek der Pariser Oper von Sylphide und Marie Taglioni gelesen und davon geträumt, das einmal zu sehen. Und als man mich dann fragte, das Ballett zu rekonstruieren, und ich begann Dokumente zu suchen, war das sehr emotional für mich. Auch die Karriere meiner Frau Ghislaine Thesmar, die La Sylphide getanzt hat, als ich das Ballett in der Pariser Oper aufgeführt habe, hat damit begonnen. Zuerst wurde sie für drei Aufführungen eingeladen, dann wurde sie Etoile, ohne die Prüfungen der Compagnie gemacht zu haben, und sie hat auf der ganzen Welt getanzt. „La Sylphide“ ist für unser Leben als Paar, für unser künstlerisches Leben ein Wunder.“ Heute wird „seine“ Version von etwa 25 Compagnien auf der ganzen Welt getanzt.
Der Tanz-Archäologe
„‚La Sylphide’ ist ein sehr wichtiger Moment in der Tanzgeschichte, denn das Ballett ist der Ausgangspunkt für das klassische Ballett. Ohne ‚Sylphide’ gäbe es keinen Marius Petipa, keine ‚Giselle’, ein Ballett das ja tatsächlich eine Mischung der beiden Charaktere in ‚La Sylphide’ ist: im ersten Akt von Effie, die Verlobte von James, und im zweiten Akt von der Sylphide, dem Immateriellen.“
140 Jahre nach seiner Entstehung hat Lacotte die Choreografie von Filippo Taglioni aus dem Jahr 1832 rekreiert. In mühsamer Recherchearbeit hat er die Musik von Jean-Madeleine Schneitzhoeffer und das Libretto von Adolphe Nourrit, eines gefeierten Sängers seiner Zeit gefunden. In den Kellern des Louvre hat Lacotte unzählige Ordner mit nicht katalogisiertem Material durchforstet, um Aufschluss über Inszenierung, Ausstattung und Kostüme zu bekommen, in London von Tänzern geschriebene Kritiken aufgestöbert, die die Choreografie genauestens beschrieben und mit Hilfe seiner Lehrer, besonders von Mme Egarova hat er das Schrittmaterial rekonstruiert. Dann war es endlich soweit: Das Ballett La Sylphide eröffnete am Neujahrstag 1972 den Sendestart von France3, dem dritten französischen Fernsehprogramm. Die Kostüme der allerersten Sendung des neuen Kanals schillerten in den Farben der Trikolore, denn nicht nur das neue Medium wollte sich patriotisch zeigen sondern auch der Italiener Taglioni wollte mit den Farben blau, weiß, rot die Herzen der Pariser zu gewinnen – und das gelang ihm blendend.
Taglionis Tochter Marie wurde durch „La Sylphide“ zum Star. Bis heute ist sie das Modell für die typisch romantische Ballerina mit ihrem weißen, wadenlangen Tutu, der engen Korsage, den zarten Flügelchen auf dem Rücken, dem Blumenkränzchen im Haar. Ihr Image als überirdisches Wesen hat sie durch ihren Spitzentanz, der den Eindruck von Leichtigkeit und Schwerelosigkeit unterstützt, perfektioniert.
„Historisch gesehen hat ‚La Sylphide’ viele große Künstler beschäftigt: Victor Hugo, Alphonse de Lamartine, Alfred de Musset“, sagt Lacotte. „Sie alle haben über La Sylphide geschrieben. Alle wollten dieses Ballett sehen, denn es war ein großer Schock, ein romantischer Schock, ein Kulturschock. Davor war das Ballett ein Divertissement, ein Fest. Mit ‚La Sylphide’ wurde der Tanz zum Traum und der Traum ist so wichtig in der Kunst. Man muss das Publikum nehmen und in den Himmel führen ...“
„La Sylphide“ war aber nicht nur ein Triumph in Paris, sondern auch in Berlin, London und am Kärntnertor-Theater in Wien, wo es 1836 herauskam. Jetzt, da die Lacotte/Taglioni-Version wieder nach Wien kommt, hat man auch ein entscheidendes Puzzleteil der Entstehungsgeschichte gefunden: Die Schlüsselszene, der Pas de trois von James, Effie und der Sylphe hat Taglioni nämlich erst hier choreografiert. Aus dem Stegreif komponierte der damals 19-jährigen Peter Brétel die Musik dazu. (Eine Anmerkung am Rande: Brétel wohnte in der Sailerstätte 30, dem heutigen Haus der Musik und starb im Alter von 21 Jahren.)
„Das Idiotische ist, dass man das Ballett verloren hat beziehungswise aufgegeben hatte“, sagt Lacotte. „Aber mit ‚Giselle’ ist das gleiche passiert. Nur die Russen haben es weiter gepflegt, aber im Westen war das Ballett aus den Spielplänen verschwunden. Es war aus der Mode. Es ist ein Wunder, dass ‚Giselle’ in Russland erhalten geblieben ist.“
1840 verschwand Taglionis „Sylphide“ von den Spielplänen und nur die Version von Auguste Bournonville aus dem Jahr 1836 wurde vom Königlich Dänischen Ballett durchgehend gepflegt. Daher setzt man heute das Ballett mit Auguste Bournonville gleich, denn nach dem 2. Weltkrieg hat es den Weg aus Dänemark heraus und auf die Bühnen der Welt geschafft.
„Er hat die Rolle des James aufgewertet, die ist bei Bournonville viel wichtiger ist als bei Taglioni, aber historisch ist Taglionis Version wichtiger, denn sie wurde überall getanzt, auch hier in Wien“, sagt Lacotte, „Bournonvilles ‚La Sylphide’ ist damals nicht aus Dänemark herausgekommen, und kurioserweise war ich der erste, der das Ballett außerhalb von Dänemark, in Paris, für das Fernsehen getanzt hat – nicht das ganze, aber große Ausschnitte daraus. Aber der Unterschied ist gewaltig, wie bei der Oper „Manon“ von Massenet und von Puccini.“ Der Unterschied liege im Stil: „Bournonville war nicht lange in Paris und kannte daher den Stil von Taglioni nicht so gut. Er war nicht wirklich ein romantischer Tänzer, sondern eher ein Tänzer des 18. als des 19. Jahrhunderts, denn seine Lehrer waren Gardel und Vestris. “
Heutige Folgen …
Für die heutige Ballerina ist die Rolle der Sylphide schwer zu tanzen. „Der romantische Stil ist eines, aber das Immaterielle zu tanzen, ist sehr schwer. Man muss verstehen, dass sie nicht da ist, dass sie ja nur ein Schatten ist. Das ist schwere Arbeit. Man braucht hervorragende Tänzerinnen, denn das wichtigste ist der Stil, die Seele, die Emotion. Wenn große Werke erfolgreich sind, dann nur, weil es einen inneren Reichtum gibt, psychologisch und spirituell sind.“
In Wien ist Irina Tsymbal die ideale Besetzung, und überhaupt zeigt sich Lacotte begeistert vom Wiener Staatsballett: „Manuel Legris hat eine unglaubliche Arbeit geleistet. Er hat eine Metamorphose gemacht, man erkennt die Truppe nicht wieder. Ich bin sehr glücklich und bin stolz auf ihn.“ Und hat dem Wiener Ballettchef sein Sylphide-Erbe übergeben, sodass dieser auch für künftige Einstudierungen verantwortlich sein wird.
In dieser Generation verschmelzen in Wien übrigens zwei Tänzerdynastien, die Taglionis und Birkmeyers. Filippo Taglionis Sohn Paul hatte eine Tochter Marie, die den Joseph Aloys Niclas, Prinz von Windisch-Graetz heiratete. Nun ist der ehemalige Erste Solist der Wiener Staatsoper Michael Birkmeyer ebenfalls mit einem Windisch-Graetz aus dieser Familienlinie verschwägert.
… und zukünftige Pläne
Pierre Lacotte hat noch einige vor, zum Beispiel ein Buch über das Leben von Marie Taglioni zu schreiben, „denn ich habe viele Dokumente gefunden“. Doch ob er dafür Zeit haben wird? Immerhin ist der 79-Jährige mehr als umtriebig: Nach der Wien-Premiere am 26. Oktober, fliegt er direkt nach Moskau, wo er zur Eröffnung des Bolschoi Theaters eine Choreografie für das weibliche Corps kreiert hat, danach folgt die Einstudierung von „La Sylphide“ am dortigen Stanislawski-Theater für die Premiere am 2. Dezember. Und trotz des herausragenden Erfolg dieses einen Werkes hat Lacotte nicht aufgehört zu träumen: „Mein Traum ist es, ein Theater zu haben, aber ich fürchte dafür ist es zu spät. Aber ein Theater zu haben, in dem man nicht nur Tanz findet, sondern auch junge Sänger, Komponisten, Schauspieler. Ich liebe das Theater, es ist meine Leidenschaft. Wenn sich der Zuschauersaal verdunkelt, kann alles passieren – Schreckliches und Schönes. Aber es bleibt dieses Mysterium. Und für mich ist das Theater ein heiliger Ort.“
Pierre Lacotte: Tänzer, Choreograf, Direktor
1946 trat Pierre Lacotte von der Pariser Opernballettschule kommend ins Corps de Ballet der Compagnie ein und wurde gleich von Serge Lifar als Solist in „Septuor“ eingesetzt. 1951 avancierte er zum Ersten Solisten. Seine erste Choreografie war „The Night of the Sorceress“ zur Musik von Sydney Bechet für das belgische Fernsehen. Als sich die Direktion der Pariser Oper weigerte, das Ballett ins Repertoire aufzunehmen, schaltete Lacotte auf stur und verließ die Compagnie. Er gründete Les Ballets de la Tour Effel, schuf dafür eigene Choreografien und verfolgte weiterhin seine Tänzerkarriere auf den internationalen Bühnen. Festivals bestellten bei ihm Ballette und in Verlin kam „Such Sweet Thunder“ zur Musik von Duke Ellington heraus. Dieses Ballett empörte seine Lehrerin Lioubov Egorova, eine ehemalige Prima Ballerina am Mariinsky-Theater in St. Petersburg. Sie redete ein ernstes Wort mit ihrem Schützling und verpflichtete ihn per Eid dazu, sich ab nun wieder ganz dem klassischen Tanz zu widmen.
Lacotte war Direktor des Balletts der französischen Jeunesses Musicales und Lehrer am Conservatoire National Superior in Paris. Zusammen mit seiner Frau, der Tänzerin Ghislaine Thesmar, leitete er die neugegründeten Ballets de Monte Carlo sowie das Ballet National de Nancy et Lorraine und das Ballett der Oper Verona.
Sein größter künstlerischer Erfolg war aber die Rekonstruktion von „La Sylphide“ in der Fassung von Filippo Taglioni aus dem Jahr 1832.
Danach wurde er zu einem gefeierten „Tanz-Archäologen“, der vergessene Ballette ausgräbt und aus winzigen Bruchstücken publikumswirksame Retro-Fassungen zusammensetzt. So erstrahlten „La Gitana“,„Le lac des fée“, „L’Ombre“,„La fille du Danube“, „Marco Spada“ . „La fille du Pharao“ oder „Coppélia“ in Paris, St. Petersburg, Moskau, Berlin und Buenos Aires in neuem Glanz.