Wenn die Energie des Tanzes das Publikum beim Schlussapplaus innerhalb kürzester Zeit aufstehen lässt – augenscheinlich ausnahmslos das gesamte im gut gefüllten Opernhaus -, dann hat die Aussagekraft von Bühnentanz, von geführter, kreativer Bewegung, eines ihrer Ziele erreicht: die Menschen und sie zu bewegen.
Und dies geschieht, ohne eine herzzerreißende Geschichte, ohne einen dramatischen Plot zu bieten; vielmehr ist es der Tanz „an sich“, das Tanzen für sich allein, das in abstrakten Bewegungsabfolgen hier in den Bann zieht, den Atem anhalten oder nach ihm ringen lässt – ein ganz klein wenig wie die TänzerInnen, wenn sie in der allerletzten Szene tief atmend langsam zum Bühnenrand, zum Publikum schreiten: eine letzte, tiefe Verbindung herstellend, bevor der nicht enden wollende Applaus sich erhebt.
Das baskisch-italienische ChoreografInnen-Duo Iraxte Ansa und Igor Bacovich ist nach zahlreichen internationalen Auftritten mit „Broken Lines“, mit ihrer Arbeit mit dem Grazer Ballett-Ensemble, erstmals in Österreich. Ihr Fokus liegt entsprechend dem Titel im Verbindenden; in seinem Vorhandensein, seiner gewollten und ungewollten Unterbrechung, seiner Auflösung und Wiederherstellung. Ihre markante Bilderwelt ergibt sich also aus der Beziehung einzelner zueinander, der Gruppe zum einzelnen. Allesamt unentrinnbar verbunden durch die Gemeinsamkeit dessen, was Leben ist: Bewegung, Tanz.
Ein pausenloses Fließen aus unzähligen, kaum noch gesehenen Bewegungsfacetten erfüllt die leere Bühne. Eines, das in unterschiedlicher Dynamik Rastlosigkeit ebenso vermittelt wie kurzes aufmerksames oder auch aggressives Innehalten vor dem nächsten Mit- oder Gegeneinander im großen Ganzen. Es sind neben den ausgreifenden Beinbewegungen insbesondere die Arme und Hände, die sprechen. Sie knüpfen und lösen großmaschig und engmaschig das Geflecht, das sich aus zeitgenössischem wie auch dem klassischen Ballett entnommenem Bewegungsmaterial entwickelt: Kaum je in wohlbekannter Ausprägung; vielmehr in überraschender, in aller Präzision der Ausführung verwirrender wie packender.
Das, was das Ensemble als homogene Gruppe wie auch in Einzelszenen, in Soli und Pas de Deus und Trois leistet, ist bei dem überdies durchgehend hohen Tempo wie auch in seinen Passagen kurzzeitiger Wechsel in relative Ruhe sehr beachtlich, sehr bewundernswert. Das enge Zusammenspiel mit der Musik, die für Ansa-Bacovich immer am Beginn einer Produktion steht, mag (auch für die KünstlerInnen) treibend unterstützend wirken. Sie ist dem Debutalbum „Aheym“ von Bryce Dessner entnommen und entfaltet sich in dramatischer Eigenwilligkeit, nimmt mit im Feinen wie im hart Peitschenden. Die gegebene Ballung an akustischer wie visueller Kraft begleitet Silke Fischer mit zurückhaltend klaren Kostümen. Das Lichtdesign, für das Bacovich selbst verantwortlich zeichnet, überzeugt in seiner symbolhaften, raumgebend strukturierenden Einfärbigkeit ganz besonders.
Das Befreiende wie das Verbindende, das dem Tanz innewohnen kann, und damit das Thema von Gruppen-Zwang, aber auch Halt in dieser, die Sehnsucht nach Zweisamkeit und Individualismus: All dies manifestiert sich in dieser bilderreichen wilden wie präzise gebauten und assoziativ offenen Choreografie nachdrücklichst.
„La Folia“, die den zweiten Teil des Abends ausfüllt respektive beherrscht, ist Titel und Ausgangs-Thema der Choreografie Maura Morales‘ und ihres kongenialen Partners, des Komponisten und Musikers Michio Woirgardt. Beide begeisterten schon einmal das Grazer Publikum und konnten diese Wirkung nun vielleicht sogar noch steigern.
Als Folia wurde ein portugiesischer Tanz aus dem Mittelalter benannt; seiner Wildheit wegen, also mit der Wortbedeutung von ‚kopflos‘ von ‚Sinnen‘ versehen. Nach seiner Adaptierung im bürgerlich-barocken Sinne übernahm nun das Künstlerpaar eine weitere Veränderung. Nach kurzem, tänzerisch ans Barocke angelehnten Eingangsteil löst sich eine Tänzerin aus diesem streng reglementierten Bewegungsgefüge: Ein neues, freies Streben und neue Erkenntnis (konkret und nicht unbedingt notwendig verdeutlicht durch aufsteigenden Rauch) bahnen sich ihren Weg; ziehen alle anderen mit, die bald ihre zwar sehr hübschen (markant und treffsicher auch insgesamt die Kostüme von Maura Morales), aber doch das Wahre verbergenden Augenmasken ablegen. Die bedingungslose Hingabe zur Idee des freien Tuns, zu ungezügelter Bewegung, zu grenzüberschreitendem Tanz findet und beginnt seinen Lauf.
Die diesen Prozess schon in der tänzerisch-choreografischen Entwicklung unmittelbar und spontan begleitende Musik formt das gegebene Konzept zu einem homogenen Ganzen, das an Vermittlungskraft kaum Vergleichbares kennt. Und so zählt es auch zu Morales (An-) Forderungen an ihre TänzerInnen, nicht nur an ihre Grenzen zu gehen, sondern diese auch zu überschreiten. Feinfühlig und individuell leitet Morales sie an, lässt die TänzerIn aber immer auch den jeweiligen eigenen Körper, seine eigene Sprache sprechen. Das mag einer der Schlüssel zu Intensität dessen sein, was dann auf der Bühne zu erleben ist: das Agieren von eigenständigen Persönlichkeiten; es sind authentische, im eigentlichen Sinn des Wortes außer-gewöhnliche Bewegung in einem Rausch gemeinsamen, zielgerichteten Bewegens zu jeweiligen Selbst.
Auch hier zeichnet das Licht (Grace Morales Suso) hintergründig und fein den Raum. Die grauen, strengen Einheitskleider der Anfangsszene, deren überlange Ärmel die Möglichkeit zu eigenem Tun einschränken, werden – alles ist wohl durchdacht bis ins Kleinste – bald eingeschränkt in ihrem Wirkungsbereich und so dann auch abgelegt.
Das Ekstatische des Tanzes, das sich hier geradezu brutal manifestiert – ein uneingeschränktes Lob gilt dem hochprofessionellem Einsatz aller Beteiligten – impliziert aber auch einen hohen Preis: den der weitgehenden Einsamkeit. Nur selten gibt es - in einem Pas de Deux zweier Damen etwa - ein kurzes, einfühlsames Miteinander. Im Grunde ist jeder allein, kämpft um seinen Platz, um sein ureigenes Ich oder gegen das ihn einschränkende, begrenzende Ich des anderen. Freiheit ist ein hohes, ein heikles Gut… .
Ein warnender Denkanstoß vielleicht - zusätzlich zu all dem faszinierenden Wahnsinn, den dieser Tanzabend bietet.
FOLLIA! Broken Lines – La Folia, zweiteiliger Tanzabend, Premiere am 4.April 2025 in der Oper Graz. Weitere Vorstellungen: 10., 24. Aoril, 9., 21., 22. Mai, 11. Juni