Die Trilogie ist komplett. Nach „TARAB“ (2022) und „ZĀĀR“ (2024) erlebte nun „VASHT“ seine Uraufführung im Tanzquartier Wien. Der Titel, ein altpersisches und heute fast vollständig in Vergessenheit geratenes Wort, steht für „Tanz als Ausdruck von Transzendenz“. Die sechs TänzerInnen und PerformerInnen auf der Bühne überschreiten in diesem faszinierenden Tanzstück eine Reihe von verschiedenartigen Grenzen.
Mit „VASHT“ führt Ulduz Ahmadzadeh, österreichisch-iranische Choreografin, Tänzerin, Researcherin und künstlerische Co-Leiterin der von ihr gemeinsam mit dem künstlerischen Co-Leiter und Szenografen Till Krappmann gegründeten ATASH عطش contemporary dance company, ihre Forschungen zu Tanzpraktiken Zentral- und Südwestasiens fort. Welch immensen Aufwand die Recherchen, die gemeinsam mit den TänzerInnen erfolgte Erarbeitung der Choreografie und die Herstellung von Kostümen, Bühnenbild und Requisiten verursachten, kann man als ZuschauerIn nur vermuten. Aber es ist sichtbar.
Das aus altarabisch-vorislamischen in islamische Glaubensvorstellungen übernommene, für menschliche Sinne nicht wahrnehmbare, identitätslose Geistwesen „Dschinn“ schaukelt bereits im Hintergrund der nur schwach beleuchteten Bühne, während sich der Saal füllt. Mit gezwirbeltem Schnurrbart, bodenlangem Schweif, zottigem Gewand und Pferdefüßen wird Ulduz Ahmadzadeh immer wieder aus dem (Wahrnehmungs-) Hintergrund sehr langsam sich bewegend aktiv werden. Auch und vor allem, um das Leben uralter Rituale zu unterstützen.
Wie Schüsse knallen die Schläge von hinten auf rückseitig aufgehängte Perser-Teppiche. Weißer Puder in der Luft. So beginnend formuliert das Stück mit diesem Bild seine Mission. Vornehmlich in Erinnerungen (selten in uralte Archive) eingelagerte Tänze verschiedener Regionen Asiens, Ahmadzadeh konzentrierte sich auf Knotenpunkte der Seidenstraße (wie der vorbildlich informative Programmzettel zu berichten weiß), werden entstaubt, kartografiert, reaktiviert und, verschränkt mit zeitgenössischem Bewegungsmaterial, neu interpretiert.
Mit diesem Ansatz geht „VASHT“ über ein reines Wiederbeleben östlicher Tanztraditionen weit hinaus. Vor dem Hintergrund aktueller neokolonialer Tendenzen und vor allem des im Iran herrschenden strikten Verbotes von Tanz (und anderen Kunstformen) zeigt dieses Stück in Zitaten und zuweilen ausführlicheren Sequenzen noch populäre neben teils fast vergessenen, sehr alten Tänzen aus verschiedenen Bundesländern des Iran, aus Afghanistan, Kurdistan, dem Irak, Usbekistan, Tadschikistan, Turkmenistan, Aserbaidschan, Georgien und Armenien.
Mit der Präsentation von durch Verbote und lückenhafte Dokumentation und Archivierung vom Aussterben bedrohten Tänzen, die die TänzerInnen hier wiedererkennbar frisch aufbereiten, bezieht das Stück Stellung zur aktuellen Kulturpolitik insbesondere der iranischen Führung. Der Tanz wird zu einem „Akt des Widerstandes gegen systematische kulturelle Unterdrückung“ (Programmzettel).
Zudem aber ist das Stück auch ein Spiegel für die westliche zeitgenössische Tanz-Landschaft. Entstanden aus klassischem, Ausdrucks- und modernem Tanz, alles fast ausschließlich in Europa und Nordamerika beheimatet und zur Hochkultur entwickelt (die wenigen asiatischen und australischen zeitgenössischen Tanzkompanien von internationalem Rang mögen diese Regel bestätigen), führt „VASHT“ dieser im eigenen Saft schmorenden Tanzkultur ihre Ignoranz vor Augen. Dem Reichtum nicht-westlicher Kulturen begegnen nur sehr wenige der bedeutenden zeitgenössischen Tanzschaffenden mit Offenheit, Aufgeschlossenheit, Neugier und integrativer Grundhaltung. Und wenn, dann geschuldet ihrer eigenen gemischt-kulturellen Herkunft.
Der aus diesen initialen Gedanken heraus choreografierte Abend führt verschiedene asiatische Tänze und zeitgenössisches Material zusammen zu einer fesselnden Melange. Gemeinsam mit der Musik des iranisch-stämmigen Komponisten und Sound-Designers Pouya Ehsaei, der mit elektronischem Sound schnell wechselnde, trotzdem ineinander fließende Atmosphären zwischen rhythmusbetontem, mit orientalischen Zitaten befeuertem lebensbejahendem Positivismus und metallisch-düsterer, bassbetonter bedroht-bedrohlicher Klangkulisse erschafft, entsteht ein spannungsreicher Tanz zwischen Lebensfreude und Rebellion, zwischen Energiespender und kräftezehrender, trotzig-aggressiver Auflehnung gegen Repression und Behinderung.
Die prachtvollen, mehrfach gewechselten Gewänder stammen wie das technisch aufwändige Bühnenbild und die Requisiten, sie feiern islamische Traditionen und Kultur mit reichlichen Bezügen, von Till Krappmann. Seine Liebe zum Detail verdient hierauf fokussierte Aufmerksamkeit. Das stimmungsvolle Lichtdesign von Benjamin Maier lässt unter Anderem den Transfer von Tanzwissen auf alten und neuen Routen erlebbar werden und weist damit auf dessen Mobilität und ästhetische Dynamik.
Vorsätzlich erwähnen die fünf an der Erarbeitung des Stückes beteiligten TänzerInnen Desi Bonato, Naline Ferraz, Andrei Nistor, Adela Maharani und Abdennacer Leblalta alte islamische Mythen (eine Wolfsmaske, Totenköpfe als Machtsymbol) und Rituale (die Zwangs-Rasur als Vorbereitung für die Vermählung, ein Hochzeits- und ein Opfer-Ritual zum Beispiel) und rituelle Tänze aus verschiedenen Regionen (Sufi, ein Messertanz der Roma, gezeigt von Desi Bonato, erscheint fast wie ein ritueller Suizid) in ihrer Performance.
Der Urban Dance von Abdennacer Leblalta auf einem ausgebreiteten Perserteppich ist nicht nur die verschmitzte Demonstration von Integration und kultureller Verschränkung. Der gebürtige Algerier, der ursprünglich amerikanischen Unterschichten-Straßen-Tanz auf einem zentralen orientalischen Kulturgut präsentiert, steht damit auch für den weltoffenen, non-hierarchischen Geist dieses Stückes und seiner Schöpfer. Sein Tanz vor dem Ende des Stückes ist Teil der jeder und jedem der fünf gegebenen Möglichkeit, sich mit ihren/seinen kulturellen Wurzeln, den Prägungen durch Ausbildungen und Interessen auf sehr individuelle Weise solistisch einzubringen.
Hiermit runden fünf herausragende TänzerInnen ein Tanzstück, das zwischen Traditionalismus und Moderne, zwischen Orient und Okzident, zwischen dem Widerstand gegen kulturelle Unterjochung und Freiheit, zwischen westlicher, vergleichsweise junger Tanzgeschichte und altem, in Tänze geronnenem Reichtum vermittelt. Das Stück hinterfragt die Selbstherrlichkeit des zeitgenössischen Tanzes. Es lebt das west-östliche Sowohl-als-auch. Mit seiner immensen physischen und mentalen Herausforderung großartig getanzt, reich an Bildern und Stimmungen wird es am Ende begeistert bejubelt.
Ulduz Ahmadzadeh / ATASH عطش contemporary dance company mit „VASHT“ am 28. März 2025 im Tanzquartier Wien.