Das 2015 in Berlin gegründete Dance On Ensemble bietet erfahrenen TänzerInnen ab 40 eine neue künstlerische Heimat, Nun lud es die renommierte Choreografin, Regisseurin und Tänzerin Meg Stuart ein, für sich und die schwarze Tänzerin Omagbitse Omagbemi ein Stück zu erarbeiten. Gemeinsam mit der DJane, Klangkünstlerin, Komponistin und Performerin Mieko Suzuki begeben sich drei Frauen in „Glitch Witch“ auf unbekanntes Terrain.
„Erfahrene Tänzer:innen haben die Fähigkeit, die geistige und emotionale Tiefe des choreografischen Materials zu erschließen.“ Wie wahr dieser bezüglich ihrer Mission geäußerte Hinweis auf der Dance On Webseite ist, führt uns Meg Stuart in dieser im Oktober des vergangenen Jahres in Toulouse uraufgeführten und im TQW als Österreichische Erstaufführung gezeigten Arbeit auf wahrlich beeindruckende Weise vor.
Verschieden große Kugeln scheinen aus dem Boden zu wachsen. In der bildenden Künstlerin und Bühnenbildnerin Nadia Lauro, der Sounddesignerin Mieko Suzuki und dem Lichtdesigner Nico de Rooij fand Meg Stuart kongeniale PartnerInnen. Lauro schuf eine dunkle, graue Schotterwüste, abweisend und faszinierend-anziehend zugleich. Gemeinsam mit dem Licht von Nico de Rooij, der mit oft unsichtbaren Lichtquellen die Kugelfragmente zum Strahlen bringt und die Szenerie samt Performerinnen nur im Mittelteil des Stücks aus der Dunkelheit heraushebt, entsteht eine geheimnisvolle, fremdartige Bühnen-Welt, das Bild eines Universums voller unterschiedlich weit entwickelter Seelen.
Mit transparenten Masken vor ihren Gesichtern betreten die drei Frauen separat diese, so scheint es, ihnen unbekannte, ja feindliche Umgebung. Unsicher, forschend. Animalisch auf allen Vieren sich bewegend, berichten sie vom Reifegrad ihrer von Regression geprägten psychischen Entwicklung. Die Notwendigkeit, sich zu schützen, erweist sich bald als Illusion. Ohne Masken nun, frei atmend, erkunden sie die Installation. Die Schwarze spielerisch, freudvoll, die Weiße unsicher tastend, resigniert. Beide allein.
Dem aus der Trennung von sich selbst erwachsenden Gefühl des abgetrennt Seins vom Anderen gibt Stuart Raum in konfrontativen, kämpferischen Momenten der drei miteinander. Aber auch Solidarität, Mitgefühl und Empathie erleben sie. Kurz nur, um sogleich in Konflikt miteinander zu geraten. Vereinzelung und Gemeinschaft, die Sehnsucht des Individuums nach Zugehörigkeit, vor allem zu sich selbst, werden zu performativen Kernelementen. Wie sehr sie Opfer ihrer Emotionen sind, zeigen sie in einem ins Extrem getriebenen Hochgeschwindigkeits-Wechselbad ihrer sie heftig schüttelnden Gefühle. Es ist die totale Entwurzelung. Aber sie münden in persiflierte Emotionalitäten.
Die Suche nach Sicherheit, nach etwas, das vor der scheinbaren Leere eines dem Ganzen geöffneten Geistes schützen kann, wird für die drei zur humorvollen Prüfung von Schürzen und Gewändern. Sie probieren sich in textil repräsentierten Patchwork-Identitäten. Was ihnen ihren Wert verleiht („Frauen und Kamele“), was sie treibt („Dancing is keeping us alive.“), Feminismus, Kunst, Sex thematisieren sie verbal, beiläufig plaudernd im locker daherkommenden Mittelteil.
Nach einem Ausflug auf die bewusste Ebene zeigen sie sich als Marionetten, wie Cyborgs ferngesteuert sich bewegend, die aufstrebenden, mit unangenehmem Gefühl von ihrer Existenz berichtenden, (noch) abgelehnten Persönlichkeits-Anteile niedertretend. Die Fäden ziehen verführerische Umwelten. Möglich aber wird das nur durch die allem zu Grunde liegende Angst vor sich selbst, sich manifestierend in innerer Schwäche und Haltlosigkeit. Hier zeigt Meg Stuart auf die Wurzeln jedweder Manipulierbarkeit, sozial, ideologisch, politisch, ökonomisch, ökologisch.
Dass es drei Frauen sind, die sich konfrontieren mit dem Dunklen in ihnen, bildet rationalistisch-patriarchal dominierte Wirklichkeiten ab, in denen die Auseinandersetzung mit den nicht-materiellen Aspekten dieser Wirklichkeiten immer noch als (inzwischen nicht mehr so bezeichnetes, dennoch so empfundenes) Hexen-Werk diffamiert wird. Gebär-Neid (sie tanzen Niederkunft) gibt zusätzlichen Grund für männliche Minderwertigkeits-Gefühle und systematische Unterdrückung von Frauen.
Die drei auf der Bühne jedoch repräsentieren noch mehr. Sie sind drei lebende Aspekte der Anima, der Seele, des Unbewussten. Ihre Positionierung auf der Bühne, ihr Stellung zueinander und ihre Interaktion miteinander bilden äußerst komplexe intrapsychische Dynamiken ab.
„Glitch Witch“ taucht ein in die Tiefen des Unbewussten, zeigt die Angst vor den dunklen, unbekannten, negativ bewerteten und darum abgelehnten Persönlichkeitsanteilen in uns, geht in die schmerzvolle Konfrontation mit ihnen und präsentiert uns die von der Furcht vor dem Unbewussten und seiner Unkenntnis genährten Oberflächen in ihrer ganzen Skurrilität.
Meg Stuart geht so weit, dass sie das jetzige Leben in den Kontext einer langen Reihe von Leben stellt und die Themen dieses Lebens als nicht allein in diesem entstanden begreift. Reinkarnation als Werkzeug zur schrittweisen Erfahrung einer in unendliche Vielfalt aufgespaltenen inneren Wirklichkeit. „Ich war im letzten Leben Kurtisane und Prostituierte. Zu viel Sex damals, daher jetzt keinen.“ Humorvoll weisen sie auf viele individuelle Leben verbindende Kausalitäten.
Der Sound von Mieko Suzuki, immer wieder wechselt sie von der Bühne an ihr rechts aufgebautes Technik-Pult, formuliert mit dissonanten polyphonen Klängen, tiefen drohenden Bässen, mit Quietschen, Krachen Scheppern, mit schneidenden, tonal dicht nebeneinander gelegten Klangkollagen, eingelagerten Techno-Parts und extremen akustischen Störungen tief eingegrabene Ängste, Zerrissenheit und aus dem inneren Dunkel Drängendes. Einen alternativen, nämlich angstfreien, integrierenden Umgang damit schlagen Stuart und Suzuki in einer humorvollen gemeinsamen, am Technik-Pult zelebrierten Spielerei mit Klang-Splittern vor.
Mieko Suzuki steht mit ihrer wieder aufgesetzten Maske hinter dem der Tribüne nächstgelegenen Kugelfragment, das sich gerade erst ein wenig aus der das Alles repräsentierenden grauen, indifferenten Unendlichkeit erhebt. Diese Ausstülpung sendet mit wandernden Strahlen sein Licht in die diesige Dunkelheit. Alien-Sound dazu. Es ist ein schon ungeheuerlich poetisches Bild für das Geworfen-Sein des Individuums, für die initiale und finale Einsamkeit des Menschen in einer ihm (allermeistens) ewig fremden inneren und äußeren Welt. Und dafür, dass die eigentliche Aufgabe dieses unseres Lebens, die Gesamtheit unserer seelischen Aspekte zu integrieren, von jedem und jeder Einzelnen selbst und allein zu bewältigen ist. Wie viel Größe, Kraft und Schönheit dort in den Verliesen unserer Seele auf ihr Gelebt-Werden warten, irrlichtert aus dieser Kugel.
Dieses Schlussbild erst macht die ganze Dimension des Stückes sichtbar, seine Reife und Klugheit, seine tiefe Spiritualität. Meg Stuart hat sich bereits mehrfach des seiner selbst und der Welt entfremdeten Menschen angenommen. Erinnert sei an das 2007 bei ImPulsTanz gezeigte, für Francisco Camacho kreierte Solo-Stück „Blessed“. Vielleicht aber tauchte die in Brüssel und Berlin lebende Choreografin noch nie so tief ein in die Seele ein wie in „Glitch Witch“. Aus Tanz, Bühnenbild, Licht, Sound und Kostümen, mit großer Intimität, Vertrautheit und Vertrauen entsteht ein in seiner Weisheit und Ästhetik einzigartiges, mit der Kraft seiner Bildsprache und deren Poesie herausragendes Werk zeitgenössischen Tanzschaffens.
Meg Stuart / Damaged Goods & Dance On Ensemble mit „Glitch Witch“ am 21. März 2025 im Tanzquartier Wien.