„Mauern wachsen aus Verlust.“ Dieses Ergebnis ihrer Untersuchung der menschlichen Natur stellt die Tänzerin und Choreografin Oona Doherty wie ein Credo über ihre Arbeit „Specky Clark, A series of theatrical Images“. 1986 in London geboren und in Marseille lebend, fühlt sie sich ihrer nordirischen Abstammung dennoch zutiefst verbunden. Mit der Geschichte ihres Urgroßvaters malt sie ein bedrückendes Sitten- und Gesellschafts-Bild angesiedelt im Arbeiter-Milieu. Wann sieht man so was auf der Bühne?
Er war erst zehn Jahre alt, als er von seiner Familie aus England zu zwei Tanten nach Belfast verschickt wurde, um dort zu arbeiten. Er, der von einer kleinen Frau Gespielte und Getanzte, der wegen seiner dicken Brillengläser gehänselt (heute würde man sagen: gemobbt) und nur noch Specky genannt wurde, der nach dem Namen seiner von zwei großen, schlanken Männern gespielten skurrilen Wirts-Tanten fortan Clark, nicht mehr Doherty hieß, erlebte damit eine brutale Zäsur in seinem noch so jungen Leben.
Völlig entwurzelt, von der eigenen Familie verstoßen und unentrinnbar in ein Umfeld gepresst, das ihn herabmindert und zur eigenen psychischen Sanierung benutzt, erfährt der Junge allenthalben psychische und physische Grausamkeiten. Den vertrockneten Tanten ist er ein willkommenes Spielzeug für ihre Herrschsucht. Nicht besser ergeht es ihm zwischen den zwei Arbeitern im Schlachthof, wo er seinen Dienst schon am folgenden Tag anzutreten hatte. Und zum Einstand gleich einmal ein Schwein erschießen musste.
Diese Story und noch die Wiederauferstehung eines toten Schweines, das es für ein paar Bier auf die heutige Helloween-Party zieht, bilden den ersten, theatralen Teil dieses einstündigen Stückes. Viel Text vornehmlich in Dialogform, gemeinsam mit dem irischen Dramatiker Enda Walsh verfasst, Slapstick, beißender Humor und kaum zu bändigende Wut in dem Jungen prägen die zwischen Wohnzimmer und Schlachthof wechselnde Szenerie. Aus der aber grüßen auch Francis Bacons Darstellungen deformierter Menschen und James Joyce' Tauchgänge in die Seelen seiner Landsleute, nur mal als Erinnerung daran, welch großartige Menschen diese Nation auch hervorbrachte.
Und dann die Party. Nach und nach füllen alle neun Ensemble-Mitglieder, maskiert, verkleidet, bereit zu eskalieren, die Bühne. Nur Specky bleibt zivil. Die gebürtige US-Amerikanerin Faith Prendergast in der Rolle des Specky beeindruckt mit ihrer darstellerischen und tänzerischen Qualität. Helloween lässt die Innenwelt des Jungen surreale Wirklichkeit werden. Glutrot das Licht (von John Gunning) wie im Höllenschlund der Seele eines völlig ausgelieferten, allein gelassenen Kindes. Der Teufel ist auch anwesend.
Speckys innere Dämonen und die einer von tradierter Gewalt zerrütteten Gesellschaft gehen in die Disco. Doherty lässt in dieser Party Innen und Außen, von Angst geflutete Fantasie und brutale Wirklichkeit, irische Mythologie und zeitgenössische Dramatik, Ahnen und Lebende, Billy Elliot und Alex Owens aus Flahdance sowie Männlichkeitsrituale und die Sehnsucht nach Liebe miteinander tanzen. Das in der Seele eines Volkes vergrabene Monströse, das so ein Fest von den Ketten sozialer und gesellschaftlicher Normen befreit, feiert sich selbst. Ungeniert und unbewusst.
Die Musik dazu stammt von der Dubliner Irish-Folk-Band Lankum, die nicht, wie ihres Gleichen meist, die tief in diesem Volk verwurzelte Melancholie mit unbändiger Lebensfreude übermalt, sondern mit elektronisch-akustischen Sounds dem Dunklen in der Seele der so lang geknechteten Iren breiten Raum gibt. Passend dazu der tiefe, monotone, in der Kultur Sardiniens fest verwurzelte Oberton-Gesang des sardischen Jazz-Saxofonisten und Tenors Gavino Murgia.
Diese individuelle und nationale Knechtschaft lebt in einer auf religiöse Differenzen projizierten Wut fort, unreflektiert und vor allem voller Gewalt. Das Ausmaß dieses Grolls, fehlgeleitet wie die Aggression der einstigen Maschinenstürmer, die ihre Webstühle als die Ursache für ihre prekären Lebensumstände ausmachten, zeugt von einer gigantischen Aufgabe, die anzugehen das irische Volk erst begonnen hat. Die direkte, unverstellte Grausamkeit der Unterschicht, geboren aus ihren Qualen, wird ausgelebt und erzeugt eben solche. Womit die Wurzeln einer sich über Generationen stetig fortpflanzenden Gewalt beschrieben wären. Und solange niemand diesen Teufelskreis durchbricht, ist die Zukunft gewiss. Nämlich voller Wut, Gewalt und mit gesicherter psychischer Erbfolge.
Dieses im November 2024 uraufgeführte Stück folgt Doherty's aufwühlender Arbeit „Navy Blue“, die das Festspielhaus im November 2022 zeigte. „Specky Clark“ ist die Geschichte eines seiner Kindheit beraubten Jungen, der zu harter körperlicher Arbeit gezwungen ohne Liebe und jedes Mitgefühl aufwächst. Dieses Stück ist eine Bestandsaufnahme der psychischen Auswirkungen von Kinderarbeit, Liebesentzug, der Missachtung der Bedürfnisse von Heranwachsenden und der wie auch immer gearteten Verschickung in die Einsamkeit. Das Alleingelassen Werden wirkt. Es gebiert Monster. Und wenn die sich sozialisieren ...
Oona Doherty beschreibt Ursachen, Wirkungen und, wie in „Specky Clark“ anhand eines Kindes, individuelle, lebenslang fort gelebte Rezepturen für einen die zerstörerische Kraft solchen Leides abmildernden Umgang damit. Das begeisterte Publikum sah über die Längen des ersten Teiles hinweg und feierte ein im fulminanten, mitreißenden zweiten Teil gelöst aufspielendes und tanzendes Ensemble. Ganz am Ende: „Mama!“ Sie sollte ihn doch beschützen.
Oona Doherty mit „Specky Clark, A series of theatrical Images“ am 07.03.2025 im Festspielhaus St. Pölten.