Die choreografische Handschrift von Michael Keegan-Dolan ist auch für das Publikum beflügelnd, lässt es sich doch gerne von den irischen Folklore-Rhythmen, die Cormac Begley auf seiner Konzertina zaubert, zum Mitwippen verführen. Da klopft so mancher Fuß, wackelt mancher Kopf, hüpft man beschwingt auf seinem Sitz auf und ab. Dies ist die animierende Grundstimmung für eine Arbeit, die gleichzeitig vielfache Facetten aufweist.
Zu Beginn liegt ein Kind in weißem Kleid auf dem gediegenen Holztisch. Hinter ihm der Konzertina-Spieler mit einer Widdermaske. Ein mystisches Bild das sich vielleicht als Anspielung an eine Mischung aus prähistorischem keltischem Animismus und Katholizismus lesen lässt. Erscheint der Widder dem schlafenden Mädchen vor seiner ersten Kommunion? Der Vorhang hinter dem Musiker fällt mit einem scharfen Geräusch und gibt den Blick auf eine Reihe von sitzenden gesichtslosen Menschen frei. Ein beklemmendes Bild, das Irlands gewalttätige Geschichte evoziert? Sind sie Gefangene, die an einen ungewissen Ort verfrachtet werden? Nichts von diesen Bildern wird als Narrativ entwickelt, es sind Eindrücke, die auftauchen und ebenso schnell wieder verschwinden. Sobald sie vom Podest herabsteigen und die Gesichtsmasken ablegen, werden die Männer in Anzügen mit weißem Hemd und die Frauen im kleinen Schwarzen zu Festgästen.
Zentraler Ankerpunkt des fulminanten Tanz- und Musikkonzertes “MÁM”, das auf diesen Prolog folgt, bleibt das Kind. Meistens das Geschehen beobachtend, hin und wieder daran teilhabend, scheint es auf die mitunter befremdliche Erwachsenenwelt zu blicken. Diese entfaltet sich in einzelnen Szenen, die lose aneinandergereiht scheinen. Wenn alle zusammen und miteinander agieren, erwecken Sie das Gefühl einer ausgelassenen Party, auf der nicht nur harmonisch gefeiert wird, sondern auch Konflikte und Raufhändel immer wieder aufblitzen. Ganz im Sinne des Titels „MÁM“, der in der gälischen Sprache unterschiedliche Bedeutungen hat und Zustände der Polarität bezeichnet.
2019 hat der Choreograf seine Company Teaċ Damsa in die westirische Region Kerry verlegt, aus der er ursprünglich, ebenso wie sein kongenialer musikalischer Partner, der Konzertinaspieler Cormac Begley, stammt. In einem quasi kommunalen Setting erarbeiteten die grandiosen Tänzer*innen und Musiker*innen über sieben Wochen die Produktion. Das Berliner Jazzensemble Stargaze kam zu einem späteren Zeitpunkt hinzu – im Stück erscheinen die Musiker*innen nachdem im Bühnenhintergrund ein weiterer Vorhang fällt. Diese unterschiedlich färbigen Stoffelemente setzen Akzente im einfachen und wirkungsvollen Bühnenbild von Sabine Dargent und zu den schwarz-weißen Kostümen von Hyemi Shin.
Klang und Bewegung oszillieren zwischen folkloristischen Elementen und deren zeitgenössischer Übersetzung mit Überlagerungen, Verfremdungen und Verschiebungen. Das Resultat ist eine überzeugende, energiegeladene Collage, eine Reverenz an die Macht der Musik und des Tanzes.
Wenn der letzte Vorhang fällt, gibt er den Blick auf riesige Turbinen frei. Das Kind steht davor auf einem Tisch und wird von einem heftigen Wind erfasst. Man meint, gleich hebe sie ab, während die Musiker*innen und Tänzer*innen ätherische Klänge intonieren. Damit schließt „MÁM“ mit einem weiteren mystischen Bild.
Die Referenzen an Irland, die in diese Choreografie einbettet sind, mögen die Zuseher*innen in St. Pölten nicht erkannt haben. Das muss auch nicht sein, denn das ist kein „entry requirement“, (wie es The Guardian formulierte). Der Abend endete jedenfalls mit jubelndem Applaus und standing ovations.
Trotz seiner eindeutigen Positionierung in der irischen Kultur ist Keegan-Dolans Arbeit universell verständlich und international gefragt. Als assoziierter Choreograf am Londoner Tanzhaus Sadlers‘ Wells spielt er in der internationalen Tanzwelt ganz vorne mit – und nimmt darin einen ganz speziellen Platz ein. Schön, ihn nach elf Jahren, als er zuletzt mit seiner Vorgänger-Ensemble Fabulous Beast im Festspielhaus St. Pölten gastierte, wieder zu sehen.
Michael Keegan-Dolan / Teaċ Damsa: “MÁM” am 14. Dezember 2024 im Festspielhaus St. Pölten