Seit 2015 verbindet die in Wien lebende Choreografin, Tänzerin und Feldenkrais-Praktizierende Anne Juren in ihrer fortlaufenden Serie „Studies on Fantasmical Anatomies“ Choreografie und Therapie. In der hier uraufgeführten Arbeit „We are all mothers (WAAM)“ erforscht sie im Rahmen von Wien Modern im brut gemeinsam mit dem Komponisten Matthias Kranebitter die kollektive Bedeutung individueller Symptomatiken.
Aus unterschiedlichen Perspektiven zeichnen sie ihr Model. Zwei Kunst- und/oder Anatomie-Studentinnen studieren den fast nackten Körper von Alex Franz Zehetbauer, der auf der zentral positionierten Behandlungsliege post. Das Publikum, fünfseitig um die Bühne herum gesetzt, darf beobachten, ist gleichzeitig aber wie Lernende in einem Anatomie-Hörsaal involviert. Die Zeichnungen der zwei liegen danach draußen aus.
Sie scheinen Rembrandt van Rijn´s 1632 entstandenem Gemälde „Die Anatomie des Dr. Tulp“ entstiegen zu sein mit ihren Halskrausen, die vier PerformerInnen, die unter dem wie tot ausgestreckt liegenden Mann das Fundament, auf dem er ruht, die klappbare Behandlungsliege, mit Geigenbögen zum Klingen bringen. Hier erscheint erstmals die Klarinettistin Teresa Doblinger, die den vier TänzerInnen auch fortan performativ unter die Arme greifen wird.
Anne Juren choreografierte sich selbst und mit ihr Linda Samaraweerova, Samuel Feldhandler und Alex Franz Zehetbauer als PerformerInnen und BehandlerInnen. Jede(r) der vier bringt individuell Erfahrenes ein. Zehetbauer wird Feldenkrais-like auf der Liege hingestreckt an Zehen, Füßen, Fingern und Armen gezogen, sein völlig entspannter Körper hier und dort gedrückt und immer schneller gedreht und gewendet.
Die vier MusikerInnen des Black Page Orchestra Teresa Doblinger (Klarinetten), Georgias Lolas (Akkordeon), Bojana Popovicki (Akkordeon) und Juan Pablo Trad Hasbun am Kontrabass sowie der Komponist Matthias Kranebitter an der Elektronik erzeugen ein anschwellendes Klang-Chaos. Schließlich wird Zehetbauer zu beißenden Dissonanzen auf ein rotes Tuch gelegt und im Kreis über den Boden geschleift. Dann sitzen alle vier auf diesem roten Tuch.
Wie sehr er diese Lockerungen physischer und psychischer Spannungen genießt, lässt es einen bedauern, keinen der wenigen der nach drei der vier Vorstellungen vergebenen Termine für eine neun-minütige Einzelbehandlung ergattert zu haben.
Über die liegende Anne Juren schwenken die anderen drei wie Ärzte in weiß Gekleideten eine wassergefüllte Wanne. Perkussive Klänge dazu, wie Geräusche in einem Bauch. Mit dem Wasser, das ihr in eine auf den Rücken geschnallte große, schwere Putte geschüttet wird, gluckst sie vor dem Publikum. Schön, wie man (ganz sicher nicht sorgenfreie) Schwanger- und Mutterschaft in Bilder fassen kann.
Dann, Juren liegt auf der Seite, versorgen die anderen drei sie mit einer aus Gips-Binden modellierten vergrößerten Hör-Muschel um ihr frei liegendes Ohr herum. Wie ein quälender Tinnitus kreischen hohe Töne, nur wenige Cent auseinander liegend, schneiden sich brutal in die so ersehnte innere Ruhe. Die damit induzierte Frage: Was will ich nicht hören? Das gipserne Vehikel gegen Schwerhörigkeit wird dem Publikum präsentiert.
Auch der bildende Künstler Roland Rauschmeier bediente sich dieses Hilfsmittels zur Heilung von Brüchen. Seine im Raum verstreut positionierten Klang-Skulpturen sind versehrte, eingegipste Alltagsgegenstände, die den von den Musikern erzeugten Klang der Verletzlichkeit und unsichtbaren Verletzungen, der verborgenen seelischen Risse und deren unerkannter körperlicher Spiegelungen in den Saal entlassen. Das Lichtdesign von Bruno Pocheron und Annegret Schalke arbeitet mit eben diesen Phänomenen auf der visuellen Ebene.
Linda Samaraweerova wird wehrlos liegend mit schier endlos langen Magnetbändern ausrangierter Video-Kassetten berieselt, bis diese sogar am Boden neben ihr Hügelketten bilden. Als Gestrüpp um ihre Füße gewickelt hindert es sie am Gehen. Später sitzt sie neben der Liege, schluckt einen langen weißen Streifen und zieht ihn dann langsam wieder heraus. Vastra Dhauti ist eine im Hatha Yoga praktizierte Tuchreinigung des Magens.
Dieses Bild, das von der Überflutung mit Erinnerungen und Informationen und der Unmöglichkeit, diese in ihrer Gesamtheit nährend zu verarbeiten, erzählt, und davon, dass das für die Vorverdauung aufgenommener physischer Nahrung zuständige Organ gereinigt werden muss, stellt die Verbindung zwischen Körper und Geist respektive Somatik und Poesie her. „Every symptom is a score“ schreibt Juren im Text zum Stück. Die ganzheitliche Betrachtung des Menschen als untrennbare Einheit aus Körper, Geist und Seele führt zwangsläufig in die mögliche Behandlung psychischer Probleme auf körperlicher Ebene und umgekehrt.
Lange bleibt die Bühne leer. Sie lassen uns Zeit für Besinnung und Einkehr. Wir dürfen uns unserer Symptome bewusst werden und sie, wenigstens imaginiert und hier im Theater, veröffentlichen. Vor uns selbst und den anderen. Dann beginnen sie peu a peu zu tanzen. Linda Samaraweerova reinigt ihren Magen. Sie übernimmt Verantwortung. Sie heilt sich selbst.
Alle vier zum Tanz zusammengekommen, strecken sie, zu Beispiel, die Zunge heraus. Auch diese Yoga-Übung („Der Löwe“) wirkt positiv auf das Verdauungssystem. Der Tanz selbst ist Körperarbeit, ist in seiner Synchronizität praktizierte Gemeinschaft, wird zum alle und jeden begrüßenden, aufnehmenden, heilenden Ritual. Auch die MusikerInnen haben ihr bis dahin im Saal gelebtes Getrennt-Sein von (sich selbst und) den anderen überwunden und sich zusammengefunden zur perkussiven Feier der Wieder-Vereinigung.
Die musikalisch-choreografische Komposition „Wir sind alle Mütter“ hat mehrere Ebenen. Neben den vielen heilerisch-therapeutischen Aspekten und Praktiken, mit denen nicht alle Zuschauenden gleichermaßen vertraut sind, auch die der bedingungslosen Liebe, die Anne Juren von Seiten ihrer 2022 verstorbenen Mutter, der sie mit diesem Stück dankt, erfahren haben muss. Wir sind Willkommen mit allem, auch mit dem, was wir an sich im Körper manifestierenden psychischen Problemen, Störungen oder Anomalien mitbringen. Denn diese werden als Potential für individuelles und gesellschaftliches Wachstum identifiziert. Pars pro toto. Jeder Einzelne steht für das Ganze. Und die Gemeinschaft erkennt und akzeptiert sich selbst im einzelnen Mitglied, nimmt dieses auf, heilt es und damit sich als Gesellschaft.
Anne Juren & Matthias Kranebitter mit „We Are All Mothers (WAAM)“ am 29. November 2024 im brut Wien im Rahmen von Wien Modern.