Wie beginnt man eine Spielzeit als Nachfolger von John Neumeier? Was soll bleiben von über 50 Jahren einer Handschrift, was soll umgeschrieben werden? Für seine Eröffnungspremiere als neuer Intendant des Hamburg Balletts hat sich Demis Volpi für einen mehrteiligen Ballettabend entschieden und Stücke von Pina Bausch, Hans van Manen und Justin Peck mit einer eigenen Choreografie kombiniert.
Mit einem Auszug aus Pina Bauschs 1974 uraufgeführten und danach nicht wieder gezeigten „Adagio – Fünf Lieder von Gustav Mahler“ eröffnet Demis Volpi den Abend. Er möchte mit dieser Wahl auf die Anfangszeit von John Neumeier in Hamburg verweisen, wie er in einem kurzen Einführungstext im Programmheft erklärt. „Ich dachte“, so Volpi, „es wäre interessant, die damalige Welt aus einer anderen Perspektive zu betrachten.“ Eigentlich eine schöne Idee! Aber eignet sich die Rekonstruktion von Pina Bauschs Stück wirklich für einen solchen Perspektivwechsel? Oder scheinen nicht vielmehr interessante Parallelen auf? In einer reduzierten choreografischen Sprache zum Beispiel, im Interesse am Emotionalen, in der Auseinandersetzung mit Mahler. Josephine Ann Endicott, eine der Protagonistinnen des Wuppertaler Tanztheaters und bereits bei der Uraufführung von „Adagio“ dabei, hat die Rekonstruktion des Stückes mit dem Ensemble des Hamburg Balletts einstudiert. Es ist spannend zu sehen, dass Manches, das wir aus den späteren Werken Pina Bauschs kennen, in „Adagio“ bereits skizziert wird. Wie das Weiterlaufen von Tänzerinnen während einer Hebung. Die Kontrastierung von offenem und zusammengebundenem Haar. Die großzügig geschnittenen Herrenanzüge. Obwohl nur wenige Fotos und eine einzige Schwarz-Weiß-Videoaufnahme als Vorlage genutzt werden konnten, hat man beim Zuschauen den Eindruck, alles sei supergenau recherchiert. Das ist toll als Zeitdokument, wirkt aber auch ein bisschen museal.
Auf Pina Bausch folgt Hans van Manen. Seine Choreografie „Variations for Two Couples“ zu collagierter Musik von Benjamin Britten bis zu Astor Piazzolla wurde 2012 in Amsterdam uraufgeführt. Van Manen ließ sich damals von den verschiedenen Persönlichkeiten der vier Tänzer*innen des Niederländischen Nationalballetts leiten. Und auch in der Hamburger Version wirken die beiden Paare in ihren farblich aufeinander abgestimmten Trikots nur auf den ersten Blick identisch. Je länger sie tanzen, desto feiner zeigen sich die Unterschiede zwischen ihnen. In van Manens wie von leichter Hand gezeichneten Pas deux reicht dafür oftmals ein Blick, eine Nuance der Mimik oder eine kleine Geste. „Variations for Two Couples“ steht zeitlich in der Mitte der vier Stücke. Fast wie ein verbindendes Moment zwischen den choreografischen Stilen. Aber es steht nicht nur von der Entstehungszeit her zentral, sondern bildet auch sonst ein Highlight dieses Ballettabends. Eine tolle Choreografie, getanzt von den nicht weniger tollen Ersten Solist*innen Madoka Sugai und Alexandr Trusch sowie Ida Praetorius und Matias Oberlin.
Auf van Manens elegantes Quartett folgt Demis Volpis eigene Arbeit. Eine sympathische Entscheidung des neuen Ballettchefs, sich selbst die unbeliebte Position nach einem erprobten, viel gelobten Tanzstück zuzuteilen. Und tatsächlich kann „The thing with feathers“ nur stellenweise überzeugen. Es gibt interessante Moves und schöne Bilder, aber die Gesamtkomposition bleibt unentschlossen. „The thing with feathers“ ist während Volpis Zeit als Leiter des Ballett am Rhein entstanden und hatte 2023 in Düsseldorf Premiere. Inspiriert von einem Gedicht Emily Dickinsons hat Demis Volpi zu den “Metamorphosen für 23 Solostreicher“ von Richard Strauss ein Vokabular entwickelt, das das ständige Fließen der Musik aufzunehmen versucht. Ensembleszenen wechseln sich mit Soli, Duos und Trios ab, die Bewegungen sind schwingend und weich und orientieren sich an einem klassischen Gestus. Jack Bruce, der mit Volpi von Düsseldorf nach Hamburg gewechselt hat, steht im Mittelpunkt der Inszenierung. Seine Pas de deux mit Silvia Azzoni auf der einen und Alessandro Frola auf der anderen Seite bilden feste Konstellationen im ansonsten steten Bewegungsstrom.
Zum Abschluss gibt es Justin Pecks Sneaker-Ballett „The Times Are Racing“; Titel auch der gesamten Produktion. Peck hat es 2017 für das New York City Ballet kreiert. Hohes Tempo, vor allem in der Beinarbeit, bestimmt seinen Tanzstil und auch die Spiegelbewegungen in den Pas de deux gehören fest zu seinem Vokabular. Es ist eine dynamische, bunte Choreografie, die sich ganz dem treibenden Beat von Dan Deacons „America“-Album überlässt. Einflüsse gibt es dabei von vielen Seiten: vom Broadway, Streetdance, Stepptanz. Das Wichtigste aber bleibt hier für alle Beteiligten: immer schön lächeln!
Vier Werke der jüngeren Tanzgeschichte – vier Stile und Konzepte. Demis Volpi hat sich in Hamburg mit einem klug kuratierten Ballettabend vorgestellt.
Hamburg Ballett: „The Times Are Racing“, Premiere am 28. September 2024 in der Staatsoper Hamburg. Weitere Vorstellungen am 17., 18., 23., 24., 27. Oktober 2024 sowie am 17. Juli 2025.