Purple rain und Diamond nights verschmelzen mit der schrillen Ästhetik der 80er Jahre: Neonfarbene unisex Jogginganzüge in Türkis und Rosa, Vokuhila-Frisuren und das gleißende Scheinwerferlicht in ähnlicher Farbgebung verwandeln die Bühne in ein lebendiges Spektakel aus queerer Kultur, Mode und Musik der 80er Jahre.
Kyle Abraham, eine herausragende Stimme des zeitgenössischen Tanzes, präsentiert eine eindrucksvolle Choreografie, die sowohl nostalgisch als auch tief in der Gegenwart verwurzelt ist. Mit seiner Formation A.I.M (Abraham In Motion) strebt er danach, Grenzen zwischen Tanzstilen aufzuheben und innovative Bewegungsformen zu schaffen. Abraham hat bedeutende Preise wie das renommierte MacArthur "Genius" Fellowship und den Princess Grace Award erhalten, die seine kreative Vision und seinen einzigartigen Stil würdigen.
Mixtapes als emotionales Vehikel
Cassette Vol. 1 ist eine Reise durch musikalische Erinnerungen, die auf Mixtapes und Kassettenaufnahmen basiert, wie sie in den 1980er und 1990er Jahren populär waren. Dies ist ein wesentliches Element der Inszenierung: Die Performance lässt nicht nur Tanz sprechen, sondern die Musik selbst wird zu einem emotionalen Vehikel, das das Publikum direkt anspricht. Songs von Ikonen wie Suzanne Vega über Hip-Hop von Salt-N-Pepa bis zu den einzigartigen Songs von Prince, Sade und den Isley Brothers bilden den klanglichen Rahmen und schaffen eine Kulisse aus Soul, R&B und Funk, die eng mit der Ästhetik jener Ära verbunden ist.
Musikalisch stellt Abraham in diesem Werk die Frage nach der Bedeutung von Popmusik in Zeiten der Unsicherheit. Die Lieder, die in Cassette Vol. 1 verwendet werden, stammen aus einer Ära großer Umbrüche, sowohl gesellschaftlich als auch kulturell. Abraham nutzt die Stücke nicht nur als nostalgischen Anker, sondern als Spiegel für unsere heutige Zeit, in der Fragen von Identität und Zugehörigkeit erneut im Zentrum stehen.
Die Tänzer*innen von A.I.M verkörpern die Vielfalt und Vielseitigkeit von Abrahams choreografischem Ansatz, indem sie mühelos zwischen Street-Dance, Modern Dance und klassischerem Ballett wechseln. Besonders hervorzuheben ist Catherine Kirk, in deren Soli Präzision und emotionale Tiefe herausstachen. Sie verkörperte eine Mischung aus Leichtigkeit und Dringlichkeit, die das Publikum in den Bann zog.
Das Bühnenbild ist minimalistisch und schlicht gehalten. Es lässt an ein Modegeschäft erinnern, indem die Tänzer:innen mit Vokuhila-Frisuren und neonfarbenen, unisex Jogginganzügen vor Schaufensterpuppen und Röhrenfernsehern tanzen.
Musik und Bewegung vermitteln Freude, aber auch eine gewisse Melancholie, die mit dem Verstreichen der Zeit einhergehen könnte. Dann ist die Sendezeit vorbei. Die Fernseher flimmern, das Testbild der 80er Jahre darf nicht fehlen, doch die Tänzer*innen sind unermüdlich und bewegen sich ohne Musik weiter.
Transformation von Körpern und Emotionen
Im ersten Teil der Performance positioniert sich die Gruppe im Synchrontanz, in Reih und Glied hintereinander auf der Bühne. Auffällig, dass es sich anfangs nur um Frauen handelt. Im mittleren Teil wird es intimer, sowohl musikalisch als auch tänzerisch, getragen von romantischem Paartanz, in unterschiedlichen Geschlechtervariationen. Die Bewegungen stets fließend und organisch, was Abrahams markanten Stil widerspiegelt: eine ständige Transformation von Körpern und Emotionen.
Die Gruppenszenen sind ein Highlight der Produktion. Sie lassen die Tänzer*innen auf der Bühne miteinander verschmelzen und wieder auseinanderbrechen. Als fragmentiere sich ein Kollektiv, um sich danach neu zu definieren.
Insgesamt gelingt es Kyle Abraham mit Cassette Vol. 1, eine tänzerische und musikalische Hommage an eine vergangene Epoche zu schaffen, die jedoch in ihrer Dringlichkeit und Ausdruckskraft in der Gegenwart verankert ist. Seine Tänzer:innen bringen diese Vision mit eindrucksvoller Technik und spürbarer Hingabe auf die Bühne. Die ausgewählten Songs verleihen dem Werk eine zeitlose Qualität. Die Performance ist sowohl eine Feier des Tanzes als auch eine Reflexion über die Macht der Musik, uns in unsicheren Zeiten Trost und Orientierung zu bieten.
Kyle Abraham: „Cassette Vol. 1“ am 20. September im Festspielhaus St. Pölten