In seiner jüngsten Arbeit widmet sich Wim Vandekeybus der griechischen Mythologie, und will diese ins Heute übersetzen. Aus der Beziehung von Zeus und Hera wird ein Ehedrama und mit den ehelichen und außerehelichen Kindern ensteht eine zeitgenössische Patchwork-Familie der perfiden Art.
Wim Vandekeybus ist einer der choreografischen Pioniere des europäischen zeitgenössischen Tanzes. Seit 1987 vertritt er mit seiner Company Ultima Vez einen Tanz der offensiven Körperlichkeit, deren virtuose Stunts das Publikum atemlos machen, bis heute. Im Zuge seiner Entwicklung haben sich seine Bühnenmittel diversifiziert. In seiner jüngsten Arbeit “Infamous Offspring” sprechen die Göttereltern Zeus und Hera von der Leinwand herab mir ihren missratenen Kindern auf der Bühne.
Im Pantheon hat Hera die Midlife Crisis, während Zeus noch immer alle Frauen vögeln muss. Ein Ehepaar, das sich wenig zu sagen und viel vorzuwerfen hat. Die Kinder Ares, Aphrodite, Apollo, Artemis, Kallisto, Dionysos und Athene sind in einem ständigen Konkurrenzkampf, ihr überreizter Zustand lässt nie nach: sie schreien und rammeln, werfen sich auf-und übereinander, was das Zeug hält. Treiber des Bühnengeschehens ist die rockige Musik von Warren Ellis, einem langjährigen Weggefährten von Nick Cave, mit der Band Dirty Three sowie von der belgischen Indie-Gruppe ILA.
Hephaistos hat eine Außenseiterrolle: Er wurde von Hera nach der Geburt gleich einmal auf die Erde geworfen, weil sie keinen Gefallen an dem Baby fand. Den seither gehbehinderten Göttersohn verkörpert die schottische Kontortionistin, Malerin und Performerin Iona Kewney vielgestaltig verkörpert wird, etwa mit mehreren Zeichnungen, die sie mit Kohlestiften in Windeseile zu Papier bringt.
Beinahe zwei Stunden lang spielt sich das Geschehen in hysterischer Überhöhung ab, die tänzerisch-akrobatischen Aktionen werden von den Tänzer*innen mit ungeheurem Einsatz ausgeführt. Eine lyrische Entspannung bietet lediglich das Solo von Hakim Abdou Mlanao als Apollo. Einen weiteren Kontrapunkt stellt der Flamenco-Tänzer Israel Galván dar, der in einem weiteren Film als graue Eminenz Tiresias rhythmische Orakel klopft.
Die Geschichten bzw. die Qualität der Beziehungen der narzissistischen Familienmitglieder zueinander werden kaum über die Bewegung sondern vorwiegend über den Text transportiert.
So evozieren die hinterfotzigen familiären Gemeinheiten die HBO-Erfolgssserie “Succession”. Doch wo beim Nachfolgegerangel um das Erbe eines Medienmoguls sarkastisch-schwarzer Humor herrscht, wird in “Infamous Offspring” pathetisch deklamiert oder doof grimassiert. Am ehesten findet man noch etwas Ironie beim Ehepaar Hera und Zeus, das von den britischen Schauspieler*innen Lucy Black und Daniel Copeland gespielt wird. Doch der banale Text von Fiona Benson baut keine Spannung auf, setzt keine dramaturgischen Akzente.
Fazit: Der inhaltliche Ansatz wird nicht erfüllt. Die Umsetzung hingegen ist medientechnisch eindrucksvoll und der tanztechnisch superbe, vorbehaltlose und energiegeladene Einsatz der Tänzer*innen verdiente den Jubel des Publikums.
Wim Vandekeybus / Ultima Vez: “Infamous offspring” am 30. Juli 2024 im Volkstheater im Rahmen von Impulstanz.