Bachsche Tonkunst in heutiger, in respektvoll wiewohl sehr freier Spielart: frech forschend verzahnt mit Bewegungskunst einer zeitimmanent experimentellen Art. Dies bot der Tänzer wie auch Publikum herausfordernde dreiteilige Ballettabend, der mit anhaltendem, zum Teil jubelndem Applaus quittiert wurde: von so manchen mit Standing Ovations, von einigen anderen irritiert, von einigen wenigen mit Ablehnung.
Vor zwanzig Jahren hatte Andonis Foniadakis Choreografie „Selon Désir“ in Genf Premiere. Für Ballett Direktor Dirk Elwert war sie der Beweggrund, diese Interpretation für Graz mit heutiger Sichtweise zweier weiterer ChoreografInnen auf Bach zu kombinieren. Eine divergierende Zusammenstellung ist daraus geworden, eine, die keinen unberührt lässt, die als prickelnde Erfahrung nicht nur Tanz-Affine fasziniert, sondern auch ein dem Tanz wenig verbundenes (Grazer) Publikum für diese darstellende Kunstform öffnen könnte. Boten die drei tänzerischen Umsetzungen doch einen Eindruck von der gegebenen Vielfalt dieses Mediums und damit einen möglichen Zugang zu diesem für (fast) jeden.
Anne Jung: „Strings attached“
Mit „Strings attached“, laut Programmheft mit ‚Bach zwischen Gestern und Heute‘ eröffnete Anne Jung den Reigen mittels einer sphärisch anmutenden Choreografie. Ihre neoklassische, mit Ballettschuhen getanzte Bearbeitung von Bachs Cellosuiten durch Peter Gregson ist gekennzeichnet von einer Leichtigkeit und vor allem einer Geschmeidigkeit der Bewegungen, die in ihrer berührenden Ausdruckskraft von einer kreativ gestalteten Bewegungssequenz in die andere gleiten lässt. Bei allem auch im Klassischen Verwurzelten sind es Menschen mit Emotion, mit Mimik und einer gewissen Natürlichkeit in der Bewegung. Es sind Tänzerinnen und Tänzer auf ein und derselben Augenhöhe, die Tanz in seinem Selbstzweck verkörpern. Choreographisch einerseits angelegt in einem harmonischen Fluss, der keine Bewegungsgrenzen zu kennen scheint; ob in Soli oder den zahlreichen wunderbaren Pas de Deux, Pas de Trois, aber auch in visuell eindrucksvollen Szenen des Corps de ballet. Angelegt andererseits aber auch in nahezu mathematischer Klarheit und Strukturierung, die mit ‚Chaos‘, mit Momenten der Aggressivität wie auch mit Zeitlupe, ja kurzzeitigen Verharren und sogar mit a capella Bewegung kontrastiert wird. Das, was die direkte Verbindung zu Bachs Musik ausmacht, ist nicht unbedingt erklärbar, birgt aber eine tief zu empfindende Deckungsgleichheit.
Dieses Fühlen unterstützen die zauberhaft zarte Lichtgestaltung Johannes Schadls ebenso wie die gleichermaßen mit zartem Pinselstrich gestalteten, diskret wirkenden Kostüme von Elisabeth Perteneder. In diese Harmonie fügt sich nahtlos das den Titel andeutende Bühnenbild: die den wenigen Saiten eines Cellos innewohnenden Möglichkeiten, aber auch das Fesselnde wie Halt-Gebende von Seilen. Inhalte, die am deutlichsten im kurzen Eingangs-Pas de deux vor dem Vorhang bewusst gemacht werden; die Szene mag in seiner Publikumsnähe das jeweils eigene Ich und seine individuellen Gegebenheiten ansprechen wollen; und damit auffordern, sich (nach dem Heben des Vorhangs) das Treiben der anderen, das Treiben in der Welt anzusehen, zu reflektieren.
Pablo Girolami: „Kepler-69c“
Der Kontrast zur darauffolgenden, relativ kurzen Choreografie „Kepler-69c“ von Pablo Girolami ist groß. Gut so – Leben ist (auch Gedanken-) Bewegung.
Seine Reaktion auf und Interpretation von Bachs Toccata und Fuge in d-Moll ist weit entfernt von gedanklichen Auseinandersetzungen mit dem Sein zwischen Diesseits und Jenseits. Er, der international erfolgreiche Tänzer und Choreograf, konfrontiert sich vielmehr mit der nicht inaktuellen Frage, was nach einem denkbaren Ende des Lebens auf der Erde vielleicht anderswo, beispielsweise auf dem Exoplanet Kepler-69c, an Leben in welcher Art möglich wäre: Musikalisch steht ihm dabei Guilherme Curado mit seiner radikalen Bach Bearbeitung hypothetisch zur Seite. Er selbst versucht es mit 5Tänzern, wobei der Radikalität hier offensichtlich engere, weil körperliche Grenzen gesetzt sind. Doch, ja, es kommt ein außerirdisches Flair auf die Bühne; dank auch der Lichttechnik Johannes Schadls und den beeindruckenden Kostümen Silke Fischers. Die durchaus im Unüblichen sich bewegenden Tanzformationen beeindrucken insbesondere durch ihre Entindividualisierung der zu erlebenden Geschöpfe: Sie scheinen nur noch mechanisch zu funktionieren, entmenschlicht, ohne Emotion. So manche der derart kreierten Szenen prägen sich bildhaft ein. Nachhaltig kreativ ausgeprägt ist die außerirdische Entdeckung und ihre Vermittlung allerdings eher (noch) nicht.
Andonis Foniadakis: „Selon Désir“
„Selon Désir“ ist da schon ungleich ausgearbeiteter, facettenreicher. Für die Herausforderung einer tänzerischen Auseinandersetzung mit Bachs Chören aus der Matthäuspassion und Johannespassion, hier in einer Bearbeitung von Julien Tarride, selbstredend notwendig.
Der international in großen Häusern erfolgreiche Tänzer und mit Preisen ausgezeichnete Choreograph Andonis Foniadakis habe, wie im Programmheft erklärt wird, mit diesem Stück 2004 „seine choreografische Handschrift in Bezug auf die Qualität und Gestaltung seiner Bewegungen definiert“. Die nichtsdestoweniger seit damals stattfindenden Entwicklungen machten für ihn eine Neueinstudierung für das Ballett Graz interessant.
Das eröffnende kurze Solo stimmt einprägsam auf die Wechselhaftigkeit irdischen Lebens und Leidens ein; auch die Sehnsucht nach einem anderen Leben wird spürbar. Mächtig und ansprechend bunt gewandet (Anastasious Sofroniou) übernimmt aber umgehend das großes Weltentreiben: Es ist ein andauernd großes Wogen, das sich da in einem atemberaubenden Tempo und mit enormer, bewundernswerter Energie ohne Unterlass über die Bühne ergießt – ein außergewöhnlich anerkennendes Lob für die tänzerische Umsetzung gilt vorbehaltlos für jeden, für jede der beteiligten TänzerInnen.
Das Potential zeitgenössischen Tanzes, seine explosive Kraft wird hier in diesem scheinbar sehr freien, nahezu endlos sich wiederholenden Drehen, Schleudern, Schleifen, Heben, Schwingen und Springen, Rollen, Rennen fassbar. Ebenso das atemlose alltägliche Streben, das immerwährende, zumeist alleinige Kämpfen nach einem Mehr. Die direkte Konfrontation mit einem Du ist oft genug eine abdrängende, eine aggressive und nur in letzter Konsequenz eine helfende. Rar sind die tatsächlichen Zuwendungen. Das, was in all diesem Fluss des mehr oder weniger getriebenen Kommens und Gehens weniger deutlich zum Ausdruck kommt ist selbstlose Hingabe, ist tiefgründige Sehnsucht. Ein beabsichtigter Hinweis auf die Zeichen unserer Zeit vielleicht.
Ballett der Oper Graz: Bach Variations. Dreiteiliger Ballettabend. Premiere am 4. April 2024 in der Oper Graz. Weitere Vorstellungen am 11., 17. April, 4., 23. Mai, 6. Juni