Wenn sich der Vorhang hebt, wird das Publikum in ein in Grautöne gehülltes Reich entführt, begleitet von den ruhigen Melodien eines einsamen Cellos und den fesselnden Bewegungen einer nackten Tänzerin (Breanna O'Mara), die flüchtige Formen auf und um einen Tisch und einen Stuhl formt. Dies ist der Beginn von „Marie & Pierre“, einer fesselnden Tanzperformance in zwei Akten im Festspielhaus St. Pölten, die von der US-amerikanischen Choreografin Bobbi Jene Smith für 31 Künstler*innen und das Sinfonieorchester Basel mit einer Originalmusik von Celeste Oram kreiert wurde (Uraufführung am 18. November 2023 im theaterbasel).
In dieser fesselnden Performance verzichtet Smith auf das traditionelle Geschichtenerzählen und lässt das Publikum stattdessen in einen Teppich aus flüchtigen Bildern und traumartigen Sequenzen eintauchen, die die Komplexität menschlicher Beziehungen erforschen. In einer Reihe von Vignetten begegnen wir den Verkörperungen von Marie und Pierre, nicht als individuelle Charaktere, sondern als Darstellungen, die in das Gewebe der Erzählung eingeflochten sind.
Ein zentrales Motiv in Smiths Choreografie ist der Kontrast: Marie verkörpert Intuition, Opulenz und die Feier des Reichtums des Lebens inmitten des Chaos, während Pierre für Strenge, Kampf und das Streben nach Perfektion in einer monochromen Welt steht. Inmitten dieser unterschiedlichen Welten treffen die Tänzer*innen aufeinander und gehen wieder auseinander und spiegeln so die Ebbe und Flut menschlicher Beziehungen wider, die an die romantischen Klassiker erinnern.
Durch komplizierte, oft physisch und technisch anspruchsvolle Soli, Duette und Ensemblestücke navigieren die Tänzer*innen durch das komplexe Terrain der Emotionen und ziehen das Publikum in eine Welt, in der sich Geschichten überschneiden und Emotionen hochkochen. Über die Choreografie hinaus spielt Smith meisterhaft mit Gegensätzen und mischt Sanftheit und Zärtlichkeit mit Momenten der Intensität und Schönheit.
Dieser Kontrast spiegelt sich in der Inszenierung wider - der Wechsel von Marie zu Pierre ist nahtlos und kraftvoll, wenn der weiche, drapierte Stoff einem makellosen weißen Raum mit Tischen und Stühlen entlang der Wand weicht. Alltägliche Gegenstände wie ein Radio und ein Telefon sind an den Rändern verteilt und verleihen dem surrealen Setting eine vertraute Realität. Gleichzeitig entwickeln sich die Kostüme von strengen Schwarz-Weiß-Tönen und Nacktheit hin zu individuellerer Kleidung für die Darsteller*innen.
Die Aufführung vertieft die Komplexität der Machtdynamik mit Szenen, in denen genderfluide Männer um einen Tisch versammelt sind, während ein überdimensionales Löwendenkmal in den Raum hinein- und wieder hinausmanövriert wird. Diese Elemente heben nicht nur Unstimmigkeiten hervor, sondern unterstreichen auch die Themen von Macht und Ohnmacht, die die Atmosphäre durchdringen.
Die Art und Weise, wie die Musik mit der Aufführung interagiert, ist sehr gut durchdacht. Die von Band eingespielte Komposition von Celeste Oram, interpretiert vom Sinfonieorchester Basel unter der Leitung von Tianyi Lu, wird auf der Bühne durch die Cellistin Valentina Dubrovina und den Violinisten Keir GoGwilt ergänzt. Zusätzlich gibt die Tänzerin Alma Toaspern scheinbar alte Chansons zum Besten und verleiht der musikalischen Atmosphäre eine einzigartige Note. Diese Mischung aus aufgenommener und live gespielter Musik steigert das Gesamterlebnis und verleiht der Aufführung Tiefe und Dichte.
Im Laufe des überwältigenden Abends laden Marie und Pierre dazu ein, über das Wesen der Identität und die fließenden Formen der Erzählung nachzudenken, wobei die Grenzen zwischen Realität und Traum verschwimmen. Am Ende der Aufführung steht Breanna O'Maras Figur in Grün allein auf der Bühne - ein kraftvolles Bild, das die Themen Einsamkeit und Widerstandskraft inmitten von Widrigkeiten anspricht.
Smiths Hintergrund bei der renommierten Batsheva Dance Company verleiht ihrer Choreografie Tiefe und Nuancen, da sie geschickt die Spannung zwischen Struktur und Intuition meistert. Diese Aufführung zeigt nicht nur Smiths Kunstfertigkeit, sondern zelebriert auch die Zusammenarbeit weiblicher Stimmen in Choreografie, Komposition und musikalischer Leitung - ein Zeugnis für die sich entwickelnde Landschaft des zeitgenössischen Tanzes. In „Marie & Pierre“ lädt Smith zu einer Entdeckungsreise ein, bei der Gegensätze aufeinanderprallen und die Essenz menschlicher Erfahrung auf der Bühne offengelegt wird.
Bobbi Jene Smith / Ballett Theater Basel: „Marie & Pierre“ am 17. Februar 2024 im Festspielhaus St. Pölten.