Ein possierliches, mit kleinen gläsernen Kugeln verwandtes Nagetier winkt verstohlen zurück aus den Zerrspiegeln der Illusionen von sich selbst, der Welt und der Zeit. Verstohlen, weil die Schleifen sich hier nur ähneln. Und jener Schnauzbärtige, der die ewige Wiederkehr des immer Gleichen postulierte, führt das Pelztier an der Leine. „It feels like eternity.“ Doch Chris Haring narrt sie schließlich beide in seinem neuen Stück „lost in freaky evolution L.I.F.E.“.
„Glaubst du, dass wir eine Wahl haben?“, fragt Luke. Natürlich, wir haben immer eine Wahl! Das möchte man den fünf PerformerInnen Luke Baio, Dong Uk Kim, Dante Murillo, Anna Maria Nowak und Hannah Timbrell in ihre multidimensionalen Traum-Wirklichkeiten rufen. Allein diese Frage formuliert zu haben beschreibt den Aufbruch der Kompanie. Der künstlerische Leiter und Choreograf Chris Haring hat seine Kompanie Liquid Loft mit dem fortlaufenden L.I.F.E.-Zyklus, dessen zweiter Teil hier als Erstaufführung zu sehen war, neuen Räumen jung entgegen gesandt.
Nach „living in funny eternity“, dem ersten Teil, einem Intermezzo mit Live-Band, zieht sich die Kompanie in „lost in freaky evolution L.I.F.E.“ wieder zurück auf die von ihr seit Jahren gewohnte Ästhetik, deren Einzigartigkeit und Wiedererkennbarkeit zum Markenzeichen „Liquid Loft“ wurde. Liquid Loft hat die Arbeit mit der Live-Kamera perfektioniert und damit ein wesentliches Merkmal ihrer unverwechselbaren Ästhetik etabliert, mehrfach und vor allem ungelenk kopiert. Mit seinen Klängen aus dem Off, die Schlager und Popmusik mit elektronischem Sound und viel eingespieltem, von den PerformerInnen lippensynchron mitgesprochenem Text (in englisch) mixen, prägt Andreas Berger seit der Gründung das akustische Gesicht der Kompanie und trägt in dieser Arbeit, wieder einmal, wandelbare Stimmungen in die Performance.
Das Spiel mit flexiblen spiegelnden Flächen und Live-Kameras, deren Bilder auf zwei L-förmig schräg in den Raum gestellte riesige Leinwände projiziert werden, das Licht, das von kalter Bahnhofsvorhalle bis zu sektoral, farblich und helligkeits-differenzierter Ausleuchtung Atmosphären schafft (Lichtdesign, Szenografie: Thomas Jelinek), die Kostüme, hier keine ultra-dehnbaren, kräftig gemusterten, halbtransparenten Textilschläuche mehr, sondern menschliche Kleidung (Kostüme: Stefan Röhrle), und Texte, die aus akustischen und sprachlichen Gründen zwar nicht immer verständlich sind (Theorie und Text: Stefan Grissemann und Sophie Reyer), deren Performance allein aber, angesiedelt zwischen Geplänkel und Tiefsinn, wieder jene feine Ironie wie auch deftigeren Witz aus früheren Arbeiten Harings zurückbringt in das Bühnengeschehen.
Und das ist geprägt von mit harten, nahtlosen Übergängen aneinander gebundenen kurzen Sequenzen, die sich wie Endlos-Schleifen, aber variiert und beschleunigt, wiederholen und später auch durchdringen. Die fünf PerformerInnen ziehen das Publikum hinein in eine surreale, vieldimensionale Welt von Traum- und realen, von assoziativen und das Unbewusste neben physische, artifizielle Wirklichkeiten stellenden Bildern.
Diese Welt ist die der Flucht in Fernweh, in unerfüllte Träume von Abenteuer, Liebe und Sex, in Oberflächlichkeit und Dekadenz der feinen Gesellschaft (Hannah in einer Doppel-Rolle oder der einer mit sich selbst redenden distinguierten Frau), und, ins Hier und Heute gehoben, in die grassierende Selbstdarstellung von Menschen, die ihre Seele verkauft haben an Identitäts-Konstrukte, an ihre Ab-Bilder in digitalen Medien (oder auf Leinwänden) wie an ihre Maskierungen im realen Leben, eine Welt der Flucht in Schizophrenie und Dissoziation von Persönlichkeiten, in den aus Mangel an Liebe diese Not wendenden Narzissmus (Hannah betrachtet sich in dem am Boden liegenden Spiegel wie einst Narziss im Wasserbecken), in die Egozentrik des vereinzelten und vereinsamten, lebensunfähigen Menschen, der, unfähig zu altern, dem Jugendlichkeitswahn verfällt.
Luke kriecht auf der Stelle, kommt nicht vom Fleck, unter und neben ihm Spiegel – ein Alptraum-Bild mit Nonchalance. Weil Stillstand selbstverständlich ist. Wir sehen ihn auch noch auf zwei Leinwänden. Stagnation, aber sehr ästhetisch. Die Spiegelungen helfen nicht. Eingebettet in die Schleifen von Wiederholungen sehen wir mehrfach dieses Bild. Wie viele andere auch. Der Catwalk auf spiegelndem Grund von Hanna und Luke, er mit einem Glitzertop in die Genderfluidität geschickt.
Geredet wird, geplaudert und geplänkelt, gesungen mit gestauchten und gedehnten Tempi, und aus dem Füllfunk des Alltäglichen gerinnt Fundamentales. Die Freiheit der Wahl, der in den Wiederholungen sich ändernde Charakter einer äußerlich gleich gebliebenen Sequenz, die Verkleidungen der in unserem Leben wiederkehrenden Muster also, die multiplen Persönlichkeiten, die gleichzeitig multiple Möglichkeitsräume sind, das Kollektiv von Einsamen, in die Welt Geworfenen, die sich als erkenntnis- und handlungsfähig erweisen.
Stefan Grissemann schrieb in seinem Text für den Programmzettel von Menschenkörpern, die sich im Tanz ihres Daseins vergewissern. Das aber beschreibt nur den die Physis betreffenden Teil. Ein Spiegel dient dem scheinbar auch. Die Spiegelungen des Lebens und der Welt jedoch sind wesentlich wirkmächtiger und von umfassenderer Bedeutung für die Selbst-Vergewisserung. Weil wir immer nur uns selbst sehen (können) im Außen, bestätigen unsere Wahrnehmung und unser Erleben nur, was wir denken, insbesondere auch fühlen.
Ein schönes Bild dafür ist Lukes Blick in einen innen spiegelnden Trichter, in den Tunnel der Wahrnehmung der Um-Welt und damit seiner selbst, gefilmt und auf die Leinwände geworfen, und seine Rede dabei. Wer einmal diese Reflexionen, vor allem die aus den abgelehnten Aspekten der Welt als verdrängte, als in sich selbst abgelehnte Aspekte, als sich selbst erkannt und akzeptiert hat, hat die Selbst-Vergewisserung, also die Selbst-Bestätigung, in eine Selbst-Erkenntnis transformiert.
Gegen Ende drehen sie die Spiegel um, zeigen sich und uns deren matte Rückseite. Sie erkennen die Welt als Spiegelbild ihrer selbst. Damit durchbricht Chris Haring sein performativ jahrelang gepflegtes Sujet und Menschenbild vom an sich selbst leidenden, in sich selbst gefangenen Menschen. Er zeigt hiermit den Weg auf für die Befreiung aus wiederkehrenden Mustern unseres Er-Lebens, er durchbricht den Kreislauf, die sich beschleunigende Spirale, die in die totale Zementierung des Ichs führen muss und jede menschliche Entwicklung, individuell wie gesellschaftlich, verhindert.
Interessant natürlich ist auch die Beobachtung und Darstellung der sich beschleunigenden (Wahrnehmung der) Zeit, die sich, konsequent gedacht, schließlich maximal verdichten muss. In einem Punkt, der Ewigkeit heißt. „This is really not gonna happen!“, lautet Lukes letzter Satz. „lost in freaky evolution L.I.F.E.“ ist unwirklich, surreal, befremdlich, verstörend, witzig, skurril und düster, und ein metaphorisch gesättigtes, äußerst vielschichtiges Abbild unserer Zeit.
Die fünf PerformerInnen sind ausdrucksstarke, präsente Bühnen-Persönlichkeiten, die in dieser Arbeit eher wenig Gelegenheit erhalten, ihre tänzerischen Qualitäten einzusetzen. Sobald es aber dazu kommt, ist es wie immer ein Genuss.
Liquid Loft mit „lost in freaky evolution L.I.F.E.“ am 30. November 2023 im Tanzquartier Wien.