Die eine war in Japan zu Besuch, der andere ist dort geboren und aufgewachsen. Und beide sind Künstler, die multidisziplinär und multikulturell arbeiten und kollaborieren. Das mag das Bindende für diesen Abend beschreiben. Zwei Stücke, die formal und in der Art ihrer Präsentation verwandt erscheinen. Methodik, Intention und ihre Wirkung aber rücken sie weit auseinander.
"Simulation Universe" von Fanni Futterknecht
Fanni Futterknecht verschränkt in der hier erstaufgeführten Lecture-Performance "Simulation Universe", inspiriert durch einen zweimonatigen Aufenthalt in Japan, die wissenschaftliche Untersuchung der globalen zeitgenössischen Spiele-Kultur mit performativen Elementen. Das Ergebnis ist auch eine fundierte, breitbasige Kapitalismus-Kritik.
In ihrer eigenen Kindheit verlor sie sich in der Kreation von Universen, Charakteren, Freunden. Sie spielte mit ihrem Puppenhaus. Spielzeuge stimulieren die Fantasie, die physische, haptisch-sensorische, motorische, intellektuelle und soziale Entwicklung eines (jungen) Menschen. Über deren Missbrauch zu Propaganda-Zwecken, zur Verherrlichung von Krieg, zur Rechtfertigung rassistischer und nationalistischer Ideologien werden Spielzeuge politisiert.
Ihre zunehmende wirtschaftliche Bedeutung als Massenprodukt für weltweit verteilte Konsumenten beschreibt Futterknecht mit einem Ausflug in die Geschichte der industriellen Produktion von Spielzeug. Die mit der Entwicklung der Mikroelektronik entstehenden Möglichkeiten veränderten die Spiele-Kultur weltweit enorm. Computerspiele sind inzwischen ein milliardenschwerer Wirtschaftszweig.
Spiele werden zunehmend Medium für den Austausch und den Export kultureller Werte, wie, zum Beispiel, der nach den Atombomben-Abwürfen in Japan forcierte Heroismus. "Atomic Robot Man". Dem Export von Fantasien in Spielen für alle Altersgruppen, der Ästhetiken prägenden Macht von Spielen stellt sie ihr Ideal von freier Imagination gegenüber.
Die Substitution des Gegenstandes menschlicher, auch und gerade kindlicher Fürsorge durch vornehmlich elektronisches Spielzeug erkennt sie als einen die sozialen Kompetenzen schrumpfenden Faktor. "Hello Kitty" (zum Beispiel) ist inzwischen zu einer die gesamte Lebensspanne begleitenden artifiziellen Welt geworden, die hoch abhängige Konsumenten produziert, deren Fantasien und Leidenschaften einer grenzen- und skrupellosen Kapitalisierung anheimfallen, für die Konsum zum Ersatz für soziale Kontakte wird und die sich klein machen, marginalisieren, um in diese Spiele-Welten zu passen. Dieser vor Jahrzehnten einsetzende und sich beschleunigende und ausweitende, die Menschheit betreffende adaptive Prozess beunruhigt.
Sie bespielen ein Bühnen-Setup aus Kuben, die an Tetris-Formen erinnern, einem Monitor und dem Pult für das Keyboard mit eingespielten Wortbeiträgen, Fotos und visuellen und akustischen Sequenzen aus Computerspielen, mit Live- und Konserven-Sound und, natürlich, mit Spiel. Sie hängen immer mehr riesige textile Erdbeeren auf, ein Symbol der japanischen Kawaii-Kultur, die mit ihrer Glorifizierung des Niedlichen inzwischen weltweite, wesentlich von "Hello Kitty" getragene Verbreitung fand. Mit über 50.000 Produktlinien … Die japanische Spiele-Welt ist mit ihren Namen nicht jedem vertraut. Kawaii? Sofubi? Die Figuren jedoch haben wir alle schon gesehen. Kuscheltiere mit riesigen Augen und Kinder, die mit monströsen Plastik-Wesen Kampf spielen. "Was wir lieben, imitieren wir!" Eine Tatsache, die in diesem Kontext zur Mahnung wird.
Was ist Fantasie? Was stimuliert sie? Und welcher Logik folgt sie? Fanni Futterknecht spielt mit buntem Plastik-Spielzeug. Die Gesetze der Schwerkraft, des Raumes, der Zeit, der Dimensionen, der beobachteten Realität gelten nicht. Was zählt ist die Kraft der Kreativität, die Macht der Kreation. Und doch: "Man spielt mit etwas, das gemacht wurde, um Freude zu zerstören."
Die Installation eines riesigen Monsters aus Kissen-Elementen, während der die "Paracosm Disorder", das Feststecken in fiktionalen, unrealen Welten, als Krankheitsbild eingeführt wird, gerät zur unnötigen Länge. Oder zu einem Bild für eben jenes Feststecken. Dieses Monster scheint die zu repräsentieren, die von ihren Spielen absorbiert wurden. Auf ihrer Flucht vor der Wirklichkeit mutieren sie selbst zu psychischen Monstern.
Der in Kolumbien geborene, in Wien lebende Komponist, Pianist und Autor Camilo Latorre spielt auf einem kleinen drei-oktavigen Keyboard Klavier- und synthetische, letztere an frühe Computerspiele erinnernde Sounds. Seine Kompositionen sind wie Spiele-Geklimper und, in seinem finalen Intermezzo, barocke Zitate. Mit verzerrter Stimme zählt er sie auf. Helden und Monster japanischer Spiele, die Monster der Blockbuster, eine in dieser Konzentration beeindruckende Sammlung.
Was Fanni Futterknecht nicht betrachtet, sind Markt und Wirkungen von Gewaltspielen am Computer, den so genannten Ego-Shootern, Damit bleibt einer der wichtigsten und auf die Psyche des Einzelnen und somit der Gesellschaft wirkmächtigsten Aspekte der heutigen Spiele-Kultur außer Acht gelassen.
Hat sie aufgehört zu spielen, ihre eigene Fantasie kreativ zu stimulieren? Mit dieser Frage entlässt Fanni Futterknecht ihr Publikum aus der Simulation ihres Universums. Wissenschaft traf Fantasie, Sprache begegnete Musik, Videospiel-Sequenzen stießen auf physisches Spiel. Ihre historischen, ideologischen, politischen und kommerziellen Betrachtungen erzeugen im Zusammenspiel mit den
entwicklungs-psychologischen, soziologischen und kulturellen Aspekten ein beklemmendes, fast dystopisches Bild von einer Zukunft, deren gestaltende Player sozial eingeschränkt kompetente, der Realität entrückte, ideologisch manipulierte und ökonomisch unfreie, missbrauchte Mitmenschen sein werden. Und Wähler.
Michikazu Matsune & Martine Pisani: „Kono atari no dokoka (Somewhere around here)“
Was bleibt vom Tanz, wenn die Show vorüber ist? Diese Frage beschäftigt den in Kobe (Japan) geborenen und aufgewachsenen, seit Ende der 90er in Wien lebenden Performance-Künstler Michikazu Matsune, die französische Choreografin Martine Pisani und ihren langjährigen Lebens- und künstlerischen Gefährten, den niederländischen Maler und Performer Theo Kooijman.
Matsune, Pisani und Kooijman lernten sich Mitte der ersten Dekade dieses Jahrhunderts in Paris kennen. Ihr feiner Sinn für Humor und Poesie und seine Bühnenpräsenz beeindruckten Matsune nachhaltig. Sie begegneten sich immer wieder, bevor der Kontakt für 10 Jahre abbrach. Der Besuch einer Performance von Matsune, Pisani saß inzwischen im Rollstuhl, führte die beiden 2018 wieder zusammen. Der Initiative und Beharrlichkeit des Japaners ist das Entstehen dieser beim diesjährigen Festival d’Avignon erstmals gezeigten Arbeit zu verdanken.
Sie tun so, als fände sie in Japan statt, die Aufführung ihres gemeinsam entwickelten Stückes. Weil Martine Pisani so gern einmal in Japan gewesen wäre. „Was, wenn wir in unserer Vorstellung dorthin reisen und das Projekt dort zeigen würden?“ Mit dieser in den nach der Vorstellung ausgegebenen Begleitmaterialien dokumentierten Frage Matsunes buchen sie drei Tickets für eine Reise, die sie durch die Jahrzehnte, über Kontinente und in verschiedene Kulturen und Sprachen führen wird. Es gibt keine Grenzen. Sie entstehen nur in unserer Vorstellung.
Sie wird an den Tisch gefahren, hergerichtet. Ihr Notizbuch hat sie vor sich liegen. Michi liest einen auf die Leinwand projizierten Text auf japanisch vor. Theo sagt „Koko, das heißt Ici.“ Also „Hier“. „Ici“, ein Stück Pisanis aus den frühen 90ern. „Im Schatten der Blumen hatte ich Angst, in die Zukunft zu schlafen“. Martine ist ein guter Schläfer, Theo nicht. Er denkt zu viel. „Slow down!“, sagt sie.
Anekdoten aus ihrem Leben, Erinnerungen an Privates und an ihre künstlerische Arbeit, Erzählungen von lustigen, schmerzvollen, aufregenden und prägenden Begebnissen. Das geliebte Meer, Yvonne Rainer in New York, das Erdbeben in Kobe, Von ihrer ersten Arbeit hat sie fast alles vergessen und verloren. Der Reigen von Geschichtchen hüpft mit uns vor und zurück durch die Zeit, hin und her durch die Welt, durch Begegnungen der beiden mit maßgeblichen Persönlichkeiten des Tanzes oder durch ganz private, trotzdem entscheidende. Und am Ende in ihre Sehnsucht, sich zu bewegen. Aber sie kann nicht.
Das Stück ist ein warmherziger Blick in das Leben eines Performance-Künstlers und auf das Werk einer ehemaligen Tänzerin, die mit ihrer Arbeit als Choreografin, seit sie selbst nicht mehr tanzen kann, weiter tanzt durch die Körper ihrer TänzerInnen. Matsune tanzt synchron vor dem Video eines Solos Pisanis, Kooijman zeigt Bewegungsmaterial aus einem anderen ihrer Stücke, und er berichtet von einem Tango mit Pina Bausch. Er war furchtbar aufgeregt. Die beiden Männer stellen es nach.
Sie verbinden Leben und Kunst, lassen sie sich gegenseitig durchdringen. Das Stück erzählt von der Vergänglichkeit der darstellenden Künste und dem, was sie bewahrt, vom Einfrieren des Temporären in diversen Archiven. In den Erinnerungen der KünstlerInnen, ebenso des Publikums, in Notizbüchern mit Aufzeichnungen und Skizzen, auf Tonband- und (sehr seltenen) Video-Kassetten, auf Fotos, in den Körpern der Performenden.
Dokumentarisch angelegt und doch jede kühle Distanz überwindend, allen Formalismus und jedes Streben nach Perfektion von der Bühne weisend lebt diese Arbeit Intimität, Respekt, Wärme, Zuneigung, Empathie und Liebe. Matsune und Kooijman nehmen sich zurück, um die in ihrem Rollstuhl sitzende Pisani zu ehren. Es fühlt sich an wie ein letztes Mal, dass wir sie, Martine Pisani, die seit 1996 nicht mehr auf der Bühne war, erleben können, wie die letzte Chance, die nicht verpasst werden will, wie ein Verbeugen vor dem Lebenswerk einer Seelenverwandten. An einem Bonsai-Tischchen, von Matsune schnell zusammengeschraubt, mit Bonsai-Pflänzchen darauf, trinken sie Tee.
Sie holen die Vergangenheit ins Jetzt, als gäbe es keine Zeit. Sie springen anekdotisch durch die 80er und 90er, durch die Stücke Pisanis und das Leben Matsunes. Sie sind in Kobe und Paris, in Wien und Marseille, als wäre jeder Ort hier. Oder überall. Irgendwo. Unbestimmt und doch konkret. Es genügt, dass wir sind. Denn wir waren und wir werden sein. Das Stück atmet die Vergänglichkeit von Zeit, Körper und Tanz, mit Humor durchwebte Melancholie und so zärtliche Poesie, die ein Raum-Zeit-Kontinuum ad absurdum führt, weil sie es auf einen Punkt bündelt: Auf das Ewige Jetzt und Hier, in dem das All-Eine sich manifestiert. Und das spendet heilsamen Trost.
Fanni Futterknecht mit "Simulation Universe" und Michikazu Matsune mit „Kono atari no dokoka (Somewhere around here)“ am 18.11.2023 im Tanzquartier Wien.