Allein das Sujet prophezeit ein vieldimensionales Theater-Erlebnis. Der Wiener Medienkünstler und Performer Jan Machacek extrahiert gemeinsam mit dem Musiker Oliver Stotz und der mexikanischen Autorin Ximena Escalante in seinem multidisziplinären Bühnenspektakel "EX-HELENA" aus historischem Stoff ewig und im Wortsinne zutiefst Menschliches und stellt es ins Heute.
Die schöne Helena, die in der antiken Tragödie Homers Auslöser für den Trojanischen Krieg war, ist in der von Escalante für ihren Text hergenommen Version von Euripides aus dem Jahr 412 v. C. in Ägypten und nie in Troja gewesen. Dort erschien sie nur als eine (ihr ähnliche?) Wolke. Diese im Stück per Nebelmaschine in den Raum geblasene, schnell wieder zergehende Illusion wird zur Grundlage für ein reich bebildertes Spiel mit Identität.
Mit Elementen von Theater, Musical, Tanz, Live-Video und Konzert mixen sie einen Cocktail aus antiker Tragödie und Performance, historischen Legenden und modernen Lebenswelten, Analogem und Digitalem, Gesellschaftlichem und Individuellem, Offensichtlichem und Verborgenem, Bewusstem und Verdrängtem/Unbewusstem.
In Text und Bild gehen sie in die Dissoziation nicht nur der Persönlichkeit der Helena. Sie tritt in Form von zwei Performerinnen, als die "echte" und eine "Möchte-gern", und als digitales Alter Ego auf der Leinwand in Erscheinung. Ihre Zerrissenheit zwischen zugeschriebener Rolle und bewusster Selbstwahrnehmung, zwischen gewachsener, massiv fremd-induzierter Identität und gefühltem Selbst, zwischen regionaler, kultureller, sozialer und familiärer Prägung und dem Willen zur Freiheit sowie die Konfrontation mit ihren unbewussten psychischen Inhalten, als Antagonisten des Bewussten, führt über Suizid-Gedanken in einen Emanzipation-Prozess. Hin zu einer Anti-Helena, die namenlos als Fremde überall mit ihrem Körper, und nur durch ihn, gebunden bleibt an ihren zurück gelassenen Ursprung.
So wie in der Szene, die Helena zeigt, um deren Hüfte ein Seil gewunden ist, das von einem nackten Lautsprecher in Schwingungen versetzt wird. Die eingespielte Stimme ist wie ihre innere. Ein schönes Bild für die Beziehung des Individuums zu seiner Umwelt. Für Umwelteinflüsse, die in die Eingeweide, ins Unbewusste eindringen und andererseits für das aus eben diesen dunklen Regionen hinaus Drängende. Das Unbewusste wird zu einem massiven Sender.
Und dann kommt der erste Cut (von mehreren) des Regisseurs. Jan Machacek sitzt links vorn und stoppt. Diskussionen. Der Text wird abgelesen in der folgenden Szene. Aber wiederholt wird keine. Der Eindruck eines „Making of“, wie er im Programmheft angekündigt worden war, wird erzeugt, ohne es konsequent umzusetzen. Das lockert auf und strafft gleichzeitig wohltuend.
Der Streit zwischen Mutter und Tochter um den Verkauf der Familien-Pfründe erscheint wie der nach außen gestellte intrapsychische Konflikt zwischen familiär induzierten psychischen Instanzen und einem verdrängten Selbst. „Helena wollte nicht Helena sein.“ Sie wollte sich umbringen im Meer. Die Emanzipation von soziokulturellen und regionalen Bindungen wird als das Fundament von Freiheit erkannt und formuliert.
Sie erzählen persönliche Geschichten. Edwarda Gurrola berichtet von den Anfängen ihrer Schauspielerei in Mexiko. Ein Gespräch mit ihren verdrängten Erinnerungen, die auch ihren aus Verletzungen geborenen Narzissmus mit sich nahmen in die Verliese des aus dem Bewusstsein Verbannten.
Das Gefühl des Falsch-Seins, des Nicht-Genügens taucht immer wieder auf. Lisa Kortschak und Nicholas Hoffman spielen E-Gitarre und singen im Duett davon. Und: „Das Zentrum von mir bin nicht ich. Es ist mein Name. Name ist Schicksal und Glück.“ Die Ungleichheit von Chancen, die systemische Diskriminierung von Frauen, die Effekte auf das Selbstbild. Die Kamera ganz nah an Gesicht und Ohr, im offenen Mund. Zerrbilder ihrer selbst auf der Leinwand. Wild ist die Sequenz, die in die identitäre Apokalypse führt. Die Schizophrenie des Lebens mit und in den sozialen Medien wird zum Abbild eines Inneren, das damals wie heute nicht Wenigen nur durch eine Spaltung der Persönlichkeit deren psychisches Überleben ermöglicht.
Eine zentrale Position nimmt die ausführliche - und sehr lebendige - Schilderung des Besuches eines überhitzten Kinos ein. Hoffman entkleidete sich successive, saß am Ende nackt im leeren Saal, hob ab und drang ein in den Film, sah am Ende etwas wie (s)einen Lebensfilm. Ein Medley von Film-Musiken. Er versteckt sich hinter einem Bild von sich selbst, das auf eine kleine Leinwand vor ihm projiziert ist.
Zwei Helenas stehen auf zwei Booten, die auf der Leinwand auseinander driften. Sie dissoziiert. Und/oder sie emanzipiert sich. Die drei PerformerInnen als Projektionen auf der Leinwand, vertikal in drei veränderliche Sektoren separiert. Sie selbst stehen rechts. Ganz. Ihr Abbild jedoch ist fragmentiert und aus austauschbaren Bruch- und Fundstücken (re-) konstruiert.
Sie genießt ihre Anonymität in der Öffentlichkeit (so mancher Postende im Netz tut es ihr gleich). Lisa Kortschak singt und tanzt die Rebellion, lasziv und bis auf die Tribüne hinauf. Von Fake News reden sie und der Modifikation der Daten, von Träumen, die von allen gleich geträumt werden. Und dass das erlaubt sei. Nur das.
Sie ist in Ägypten und im Frieden, er in Troja und im Krieg. Das weibliche, bewahrende und das männliche, erschaffende Prinzip. Oder toxische Männlichkeit. Oder destruktives Patriarchat. Und: Die andere Perspektive Helenas in Ägypten führt Anlässe für Kriege ad absurdum.
Projektionen auf ein oder zwei Leinwände erzählen von der Spaltung der Persönlichkeit. Die Schizophrenie, erzeugt durch divergierende Selbst- und Fremdbilder, das Leben in realen und digitalen Welten, bewusste und unbewusste psychische Inhalte und das Frau-Sein in einer patriarchal geprägten Gesellschaft. Die Sprache des Stückes, poetisch und multilingual, scheint das zu unterstützen. Lyrische Passagen aus Übersetzungen der historischen Stoffe brechen die Alltagssprache unserer Zeit, binden damit auch die Zeitalter. Ebenso die Kostüme von Hanna Hollmann. Von historisierendem altgriechischem Weiß bis in ein Existentialisten-Schwarz kleidet sie die drei PerformerInnen. Oliver Stotz macht mit seinem Sound zum Beispiel durch eine geloopte Sequenz, zu der sie hüpfen und tanzen, das gefangen Sein in Identitäten wunderbar deutlich.
Die wie am Anfang auch am Ende wieder aktive Rundumleuchte auf dem Leinwand-Rahmen spricht von Dringlichkeit, fordert Aktion. Das von feministischem Geist durchdrungene, vielschichtige und -deutige Stück, für das Jan Machacek ein hochkarätiges Ensemble versammelt hat, nutzt theatrale Mittel mit zuweilen ironischer Distanz zu ihnen, ohne durch diese Distanzierung die Verbindung zum Sujet zu unterbrechen oder dieses zu sabotieren. „EX-HELENA“ schaut tief in Menschliches, ist Poesie in starkem Text und kräftigen Bildern, surreal und wahrhaftig, humorvoll und psychologisch fein gezeichnet, ist seit Jahrtausenden brandheiße Aktualität.
„EWIGE 80er“, Videokunst von Jan Machacek und Oliver Stotz
Für 35 Minuten zelebrieren die beiden die Auferstehung der Ästhetik der 80er Jahre. Gleichzeitig steigen die Dämonen jener Zeit aus ihren Gräbern und unserem Vergessen.
Wer sie erlebt hat, erinnert sich, wenn gewünscht oder (heraus-) gefordert, gut an diese Zeit. Die schnellen Schnitte in den Musik-Videos, der Vokuhila, "Thatcherismus", ein Schauspieler als US-Präsident und der Aufbruch im Osten. Jan Machacek und Oliver Stotz exhumieren in ihrem performativen Video "EWIGE 80er" den Geist einer Zeit, die geprägt war von mannigfaltigen Umbrüchen. Oder der Einleitung von solchen. Was über individuelle und kollektive Erinnerungen hinaus nachwirkt, untersuchen sie in dieser während des ersten Pandemie-Jahres entstandenen, ursprünglich als Live-Performance geplanten Arbeit.
Sie suhlen sich ausschweifend in der Ästhetik der 80er, die auch künstlerisch die Möglichkeiten der beginnenden Digitalisierung feierte. Mit viel Humor und spürbarer Freude am Spielen kreieren sie Metaphern, die durch die Oberflächen popkultureller und technisierter Bespaßung beunruhigende Realitäten und Tendenzen aufscheinen lassen. Mehrere Layer in der visuellen Darstellung bilden die Vielschichtigkeit der Beobachtungen ab.
Einen Song, der nur aus Titeln von damals erfolgreichen Popsongs getextet wurde, performt Machacek beeindruckend zeitgemäß. Kurt Waldheims Konterfei und die unzureichende Aufarbeitung nationalsozialistischer Vergangenheit, die "Eiserne Lady" und das Erstarken konservativer Kräfte, der "Eiserne Vorhang" und dessen Destabilisierung durch Gorbatschow, Ronald Reagan und die Entsolidarisierung der amerikanischen Gesellschaft, Kapitalismus - made in USA und UdSSR-Sozialismus in Agonie, die Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl und die Erschütterung des Glaubens an die Kernenergie als Lösung aller Energie-Probleme, die zunehmende politische und soziale Spaltung der Gesellschaft, der saure Regen und das Waldsterben, die Spiegelungen der Kunst und die Blendungen individueller und gesellschaftlicher Selbstbilder und, vor allem, die selektive Wahrnehmung des Einzelnen und der Masse. Eine der Folgen: Die selbst- und gesellschaftlich verantwortete Relativierung des Einzelnen.
Die rasante Folge von Bildern fordert eine gute halbe Stunde volle Aufmerksamkeit. Kein Problem wegen der faszinierenden Ästhetik der Bilder und der Fülle der Themen. Das sich einstellende Unbehagen repräsentiert die Aktualität der Themen. Sie sind da, in uns, wie die Bilder in dem sich bewegenden, transparenten Körper in der Schluss-Sequenz.
Konzentriert, dicht, viele Ebenen verwebend, prägnant, amüsant, beklemmend und handwerklich beeindruckend zeigt "EWIGE 80er" einen höchst lebendigen Geist im scheinbar längst historischen Gewand.
Jan Machacek mit „EX-HELENA“ und gemeinsam mit Oliver Stotz: „EWIGE 80er“ am 04. November 2023 im brut Wien.