Die Gehsteige sind nun wieder etwas mehr hochgeklappt in Graz und anderen Orten des Bundeslandes; selbst auch, auf ihre Art, einzelne Wiesen und Wälder, denn: La Strada 2023 ist Geschichte und damit auch neun intensiv anregende Festival-Tage, in denen dank internationaler und regionaler KünstlerInnen Zugänge zu dem, was (vielleicht) das Paradies ausmacht, erahnt oder sogar erfahren werden konnte.
Intendant Werner Schrempf hat in seiner Programmauswahl diesen roten Faden gelegt; einen, den man in unterschiedlichster Weise tatsächlich ergreifen konnte. Einen, dessen unbegrenzte Vielfalt im Kleinen, im Alltäglichen wie im Großen, im Erträumten, gesponnen wurde: ironisch, beschreibend, hinterfragend, spaßig, aufrüttelnd, im Rahmen von 162 Vorstellungen sowohl indoor als auch outdoor.
Gemeinsam sowie auch Kunst- und Länder-Grenzen übergreifend wagten AkrobatInnen, SängerInnen, PerformerInnen und Bandmusiker mit dem Publikum eine erste, niederschwellige Annäherung an das Erhoffte bei „Entrada al Paradis“ in einer „Hoch-Zeit der Kunst“, also einem unbeschwerten Fest des lustbetonten Vorführens künstlerischer Potentiale – vor, zwischen und mitten in den Zuschauern. Gleichermaßen in hautnaher Verbindung entwickelte sich auch ein Fest der Kunst am „Marketplace“, wo, ergänzt durch Gaumenfreuden, Lebensfreude und die Freude am künstlerischen Tun – vertreten wiederum durch Gravity & Other Myths sowie durch Fanflures Brass Band und Candlelight Ficus – fröhliche (und im besten Sinne) Urständ feierten.
Freude anderer Art bewegt die französische Tanzcompagnie Ex NIhilo: die bei der Erkundung von urbaner Räumlichkeit (was im gegebenen Fall allerdings nicht so sehr transportiert wurde) und – umso überzeugender - deren Alltags-Objekten sowie insbesondere die bei der Erkundung der Beziehung zwischen jedem und allen anderen. Es sind eher abstrakte Bilder und Szenen, die die KünstlerInnen aus Plastikstühlen, Autoreifen und Seilen kreieren: offen für jedermanns individuelle Assoziationen, handfest fürs Staunen ob dermaßen kreativen Umgangs mit Altbekanntem. Das professionell eigenwillige, tänzerisch (scheinbar) minimalistische Miteinander ist irritierend vertraut, beunruhigend faszinierend. Ihr „In-Paradise“ fordert vehement zum ungewohnten Einlassen auf Ungewohntes auf: auf das uns Umgebende sowie auf jeden anderen.
In gewisser Weise vergleichbar mit der provokanten Fragestellung des niederländischen Künstlerduos Zwermes in „Pan // Catwalk“: Beeinflusst uns das äußere Erscheinungsbild eines Unbekannten bei seiner Beurteilung, Einschätzung? Wenn ja: Inwiefern ist es berechtigt, ja gewollt? Es sind unzählige Outfits unterschiedlichster Art, die die beiden Akteure in Windeseile wechseln, kurz jeweils darin verharren und wieder ausziehen. Das erregt Aufmerksamkeit bei zufällig Vorüberkommenden, ist vergnüglich und originell, überrascht manchmal in seiner Wirkung auf die darin wahrgenommene Person – aber bewirkt nicht unbedingt ernstere, tiefere, erhellende Reflexion.
Dies gilt auch für die sehr eigenständige, durchkomponierte Produktion „Continuum“ des bei La Strada schon bekannten Belgiers Johannes Bellinkx/ SoAP‘. Nachdem alle neugierig Mutigen eng nebeneinander auf einem ungewöhnlichen Gefährt Platz genommen haben, beginnt eine real gefühlte, weil manchmal rüttelnde Fahrt in Dunkelheit, optisch wahrgenommen im naturalistischen Cinemascope-Format; eng und feinfühlig verbunden mit Geräuschen und Musik. Ein mehrschichtiges Vergnügen für die Sinneswahrnehmung der abstrakt ungewohnten Art, und eines, das daher vielleicht die eine oder andere fremdartige Empfindung oder auch ungewohnte Gedanken auszulösen vermag.
Nachhaltig ist hingegen die interaktive La Strada-Koproduktion „One Three Some“, in der die griechische Künstlerin Danae Theodoridou durchdachte und klug formulierte Fragen rund um das Thema ‚Demokratie‘ und der Funktion und Zweckmäßigkeit einer Versammlung stellt: In Form eines immersiven Theaters. Gut aufbereitet und daher entspannt-anregend gestaltet sich das Rollenspiel für die 40 TeilnehmerInnen, eingeteilt in Zuhörer und einige Sprecher (ausgestattet mit vorzulesenden Texten) und Moderatoren (3 regionale KünstlerInnen.) Interessante, wie auch provokante Inputs und spontan geäußerte Überlegungen der Zuhörer erweitern spielerisch, aber deswegen nicht weniger engagiert, das eigene Wissen, die eingefahrenen Perspektiven. Eine vielfältig bereichernde Erfahrung einschließlich der Erkenntnis, dass Körperlichkeit in Form von Aktion ein wesentlicher Teil von Politik ist.
Interaktiv spielerisch und belustigend auch die von der regionalen Gruppe Das Planetenparty Prinzip realisierte Produktion „Putsch“. Darstellerisch wie dramaturgisch gekonnt und mit sichtbarer Freude überzeichnet wird die Situation von PraktikantInnen für das teilnehmende Publikum im Rollenspiel erlebbar gemacht: indem es das eigene, also das Denken des Teilnehmers durch aufgesetzten Kopfhörer (manipulierend) unterstützt, häufiges Feedback durch eine kleine Belohnung ‚erkauft‘, sinnloses, unorganisiertes Tun mit tiefer Ernsthaftigkeit ‚begründet‘, Leistungsdruck mit freundlichem Lächeln als selbstverständlich präsentiert…. All das in einem realen Grazer Büro. Oft Gehörtes wird nachfühlbarer – viel mehr bewirkt es allerdings nicht.
Zu performativen Höhepunkten zählen die beiden gleichermaßen außergewöhnlichen wie in der Umsetzung geradezu gegensätzlichen Produktionen „Exit“ und „Dimanche“. Reduziert auf eine ‚schlichte‘ Installation aus schwingenden Türen in drei Wänden, von denen die mittlere drehbar ist, lenkt der junge belgische Choreograf Piet Van Dycke die Aufmerksamkeit konzentriert auf das ebenfalls nahezu ‚schlicht‘ wirkende Tun, das heißt auf das exzeptionelle Können der vier Akteure: Auf ihr punktgenaues Zusammenspiel in schwindelerregenden Balanceakten, auf ihr sekundengenau getimtes Kommen und Gehen, Fallen und Springen, Klettern und Purzeln durch besagte Türen, auf ihre mit tänzerischer, fließender Körperbeherrschung eingestreute Akrobatik und ihren charmanten kleinen Slapstick-Szenen: Ein Augenschmaus für Bewegungs-Gourmets. Mit authentischer Freude strahlt in ihrem Mit- und Gegeneinander wie auch in solistischen Passagen ihr Spiel mit dem Oben und Unten, dem Dahinter und Davor, dem Drinnen und Draußen; all das lässt auch ein wenig nachdenken: Denn, wer weiß schon genau, wo er eigentlich ist!
Durchaus nachdenklich macht auch die fantasievoll anregende und spartenübergreifend hochkreative Produktion „Dimanche“ der belgischen Company Focus & Chaliwaté. Fiktives und Faktisches verbinden sich hier ebenso harmonisch wie bedrohlich: ungewöhnlich verspielte performative Möglichkeiten unterschiedlichster Art nützend – Puppenspiel, Objekttheater, Video, darstellendes Spiel und Bewegungstheater – wird von Wirkungen einer Klimakatastrophe in zwei Erzählsträngen berichtet. Poetisch und immer wieder überraschend, berührend und doch auch wieder amüsierend, wenn etwa das allzu Menschliche auch in dieser Situation nicht fehlt: In der Familie, die allem Untergangsszenarium zum Trotz zu feiern versucht. Und auch bei den nicht immer souverän die unheimliche, bedrückende Situation dokumentierenden Reportern. Kunst, die des Theaters ist und die doch auch zeitimmanente Möglichkeiten brillieren lässt – ohne dabei den Humor ganz zu vergessen.
La Strada Graz: 28.Juli bis 5.August 2023