Nur ein paar Requisiten auf der Bühne, ein paar Gedanken im Kopf zu performativen und tänzerischen Möglichkeiten und die Themen ihres (Künstler-)Lebens bringen Ishmael Houston-Jones und Keith Hennessy mit ins Wiener mumok, um improvisierend daraus etwas entstehen zu lassen. Das Ergebnis fühlt sich an wie ein choreografiertes Tanzstück voller Bilder und Geschichten.
Es ist wie ein Gespräch, das sie da in Gang setzen. Zuerst eines mit dem Publikum. Hennessy entert als erster den Ausstellungsraum (das Publikum ist quadratisch um einen eher imaginären Bühnenraum in der Adam Pendleton-Ausstellung des mumok platziert, hier eine weitere Arbeit, die in Kooperation von ImPulsTanz mit Wiener Museen gezeigt wird). Sein Weg durch die ZuschauerInnen in deren Mitte braucht ein wenig Zeit. Noch mehr davon benötigt Houston-Jones, der erst einmal auf den Beinen am Boden Sitzender herum lümmelt und damit für Heiterkeit sorgt.
„Warum ich?“ „Was machst du?“ „Das ist der Anfang.“ Houston-Jones schlägt und beißt sich. Sie ringen miteinander, pressen die Hand in das Gesicht des Anderen. Er küsst und leckt den Schuh des Anderen, der eben noch gewalttätig in sein Gesicht gedrückt wurde. Boxen und Überschläge. Sportive Aufwärmphase. Sex und Kopulation, körperliche Nähe und Tanz mit den Fingern im Mund des Anderen. Bewegung in Slow Motion.
Der 1951 in Harrisburg, Pennsylvania, geborene US-amerikanische Choreograf, Autor, Performer, Kurator, Lehrer und Kunstanwalt Ishmael Houston-Jones, vielfach ausgezeichnet und mit seinen Arbeiten weltweit tourend, entwickelt seit den 70ern Tanz-Performances, kollaborierte mit vielen Künstlern, trat in deren Werken auf, schrieb Essays, Prosa und Texte für Performances und nahm immer wieder die Themen Homosexualität und afrikanische Diaspora in seinen Fokus.
Keith Hennessy, 1959 in Kanada geboren und jetzt in San Francisco lebend, Tänzer und Choreograf, gilt als Pionier der queeren und AIDS-bezogenen Performance. Seine Tanz, Sprache und Gesang verbindenden, oft improvisierten performativen Kollagen durchbrechen zuweilen die Grenze zwischen Performer und ZuschauerIn. Sein politisches Engagement gegen Atomkraft, für die Rechte Queerer und im Rahmen sozialer Bewegungen kennzeichnet auch seine Arbeiten.
Der Sound kommt live erzeugt von Jose E. Abad, einem in San Francisco lebenden queeren Tänzer und Sounddesigner. Von seinem Tisch in der Ecke aus beobachtet er das Geschehen, gibt von Brummen, drohendem Krachen am Anfang über melodiöse Klänge, Techno und Pop bis zu kreischendem Gedröhn eine den Moment erspürende Klangkulisse dazu. Auch er improvisiert, wird zum organisch sich einfügenden Dritten.
Nicht nur ihre Leidenschaft für die Improvisation als künstlerisches Mittel verbindet diese beiden Künstler. Sie verlassen sich in „Closer“ ganz auf ihr treffliches Gespür für den Moment und dessen Stimmung. Ihre behutsame Annäherung auf der Bühne zu erleben ist faszinierend. Was sie dann im tänzerisch-performativen Zwiegespräch thematisieren, erreicht wegen der Authentizität der beiden Tänzer ohne Umweg übers Hirn die emotionalen Rezeptoren der Zuschauenden.
Ethnie und Rassismus, Vergangenheit und Zukunft, Teilhabe und Verantwortung, Un-Gleichheit, Freiheit, Aktivismus, Gewalt, Schmerz, Leid und Vergebung, Verzweiflung, Hoffnung und Sehnsucht, Selbstzweifel und Selbstverleugnung, Einsamkeit und ausgeschlossen Sein, Ungerechtigkeit und Auflehnung, Resignation und Protest, Sexualität und Sex, Ablehnung und Begehren, Achtung und Achtsamkeit, Respekt und Empathie, Selbstironie, Verständnis und Verstehen und alles durchdringend immer irgendwie Liebe zeigen sie in einem Fluss von tänzerischen und performativen Sequenzen unter successiver Einbeziehung der drei in den Ecken drapierten Requisiten.
Ein Bündel von Bambus-Stangen, das sie sich zuwerfen, das sich auflöst und zerfällt, das zum Werkzeug wird für die behutsame Einladung, dann intensive Einbeziehung von Zuschauenden in das performative Geschehen auf der Bühne, die Bühne füllt sich zwischenzeitlich mit spielfreudigem Publikum, entwickeln sie nonchalant zur komplexen Metapher für kulturellen Austausch, für die Pflege und Weitergabe von kulturellen Werten und Inhalten, für kulturelle Aneignung und Beeinflussung, für die Integration Andersartiger, für die Kommunikation über alle sprachlichen, ethnischen, die sexuelle Orientierung betreffenden, Alters- und konfessionellen Grenzen und Unterscheidungen hinweg.
Sie zelebrieren die spielerische Einbeziehung des Publikums nicht nur mit dem Ziel der - erfolgreichen - Bespaßung des selben, sondern als Bild für das integriert Sein in und die Mitverantwortung eines jeden Einzelnen für die Gesellschaft und deren soziale und politische Prägungen. „Racial Diversity!“ Hennessy singt und schreit es in die Menge.
Ishmael Houston-Jones drückt in einer Szene sein schweißnasses Gesicht auf den Boden. Viele Abdrücke nebeneinander. Dann küsst er den Boden. Wie hart sein Leben als Schwarzer und Schwuler in dieser, insbesondere auch der amerikanischen Welt war und ist, mag man nur erahnen. Er liebt sein Leben, seine Wurzeln, seine Kultur und die Welt trotzdem. Seine Dankbarkeit und seine positive Weltsicht können Vorbild sein.
Zwei weiße Kleider streifen sie sich über, ihre die Pobacken frei lassenden String-Tangas deutlich sichtbar. Sie mischen sich erotisch-verführerisch tanzend ins Volk. Der, mit dem Kleid über den Kopf gezogen, oft wiederholte Schrei „Stop it!“ klingt wie ein wütender Protest gegen anhaltende Diskriminierungen.
Ein riesiges grünes Tuch, das sie über das die Bühne rahmende Publikum ziehen, wird von diesem als Einladung zum vergnüglichen Spiel mit der Abdeckung aufgenommen. Ob das Bild, dass wir alle unter einer Decke stecken, dass all diese Themen unser aller Themen sind und dass wir, jeder Einzelne von uns, (mit-) verantwortlich sind, ebenso wahrgenommen, besser: gefühlt wurde?
Sie begegnen sich, stehen sich gegenüber, berühren ihre vorgehaltenen Hände. Sie spiegeln sich gegenseitig, tanzen zärtlich in Slow Motion, zeigen ihre tiefe Verbindung. Sie reden über das Sterben des Anderen. Dieser, der wohl intimste, intensivste, emotionalste und berührendste Moment des Abends, ist der letzte einer bejubelten Performance.
Aus Sprache, Text, Gesang, Tanz, Sound, Stäben und Stoff weben die drei Performer hochprofessionell spielend, empathisch und mit wundervollem Gespür für die Situation und aus ihr sich ergebender Möglichkeiten „Closer“ zu einer fast einstündigen Performance, der man ihr in jedem Moment improvisiertes Entstehen nicht anmerkt. Das Ergebnis ist von überraschender Geschlossenheit, humorvoll, bedrückend und berührend und voll von sehr persönlichen und politischen Statements. Einzigartig!
Ishmael Houston-Jones & Keith Hennessy mit „Closer“ am 29.07.2023 im Wiener mumok im Rahmen von ImPulsTanz.