Seit 30 Jahren kreiert der französische Tänzer, Choreograf, Autor und Performer Stücke. Heute ist er einer der bedeutendsten Tanzschaffenden Frankreichs. Zu seinen Werken zählen einige Soli, jedoch bis vor Kurzem keines für sich selbst. Für das 2021 uraufgeführte „Somnole“ reflektiert er den Zustand zwischen Wachen und Schlafen, die Somnolenz, die ihn seit Jahrzehnten fasziniert – und legt dabei sein Inneres frei.
Das Wiener Odeon mit seiner neoklassizistischen, säulengerahmten großen Bühne scheint ein idealer Ort zu sein für den unter anderem an der Pariser Oper klassisch ausgebildeten Tänzer. Seit August 2022 ist er Leiter des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch. Deren Arbeitsweise, ganz ins intensive Fühlen und bestenfalls ins eigene Unbewusste zu gehen und daraus Bewegung zu kreieren, ähnelt dem Ansatz, dem Charmatz für die Entwicklung seines ersten „richtigen“ Solos, und nicht nur für diese Arbeit, folgte. In „Somnole“ wollte er „die Arbeit des Gehirns so sichtbar wie möglich machen“.
Das Stück ist radikal Solo, in seiner Offenheit und Ehrlichkeit und in der Form. Charmatz begleitet sich musikalisch selbst. Nur mit einem bunten Rock bekleidet pfeift, stöhnt, ächzt und atmet er hörbar. Klassische und Film-Melodien, Warn-Pfiffe und Lockrufe, Vogelstimmen und Geräusche, Zischen und Prusten. Seine Emissionen sind direkt mit der körperlichen Aktion verbunden. Die physische Anstrengung wird hörbar illustriert oder konterkariert. Das Spektrum an Lauten ist gigantisch. Charmatz erschafft allein hiermit ein assoziationsreiches akustisches Abbild seiner so facettenreichen vorbewussten psychischen Inhalte.
Ganz langsam kommt er pfeifend von weit hinten auf die im Dämmerlicht liegende Bühne, so wird er auch wieder gehen, gleitet gemächlich im Dämmerzustand von Geist und Körper, deren Aktivitäten er sehr langsam beginnend mit Kontrasten, abrupten Änderungen, changierend zwischen Inaktivität und heftigen Ausbrüchen in Bewegung umsetzt. Eine Kette von Impulsen, deren Intensität wie die Energie ihrer Ausführung variiert, führt die Performance durch „mäandernde Geisteszustände“, wie er in einem Interview 2020 erzählt.
So wie Mozart, Bach, Vivaldi, der rosarote Panter, Ennio Morricone, Billie Eilish, Frank Sinatra oder am Ende Händels „Lascia ch'io pianga“ einfach auftauchen, brechen Zustände von Zweifel und Hoffnung, Alpdruck, Angst und Mut, verfolgt Werden, Schutzlosigkeit, Verletzlichkeit, Minderwertigkeitsgefühl und Selbstermächtigung, Trost, Selbstliebe, Verunsicherung, zwangsneurotische Anflüge, Ekel, Erschöpfung und ausgelaugt Sein ins Bühnen-Licht, das sich vom schwachen, auf ihn gerichteten Spot im Halbdunkel in immer größere – unbewusste - Areale erhellende Belichtung entwickelt.
Sein Bewegungsmaterial umfasst eine ungeheure Bandbreite. Zeitgenössisches und klassische Einwürfe, Ausdrucks- und Stepptanz, Butoh, Jazz und Disco. Nichts in Reinform, vieles springt wie ein Fisch aus dem Wasser, um gleich darauf wieder einzutauchen in die unsichtbaren Tiefen einer reichen Seele. Oder es mischt sich. Seine Geschichte und seine Geschichten drängen mit Gewalt oder zartem Impuls ins Physische, bevor sie ein Gedanke werden. Gedanken gibt es nicht, nur Impulse und Gefühle.
Zu einer Schlüsselszene wird, nachdem das Licht ins Publikum drehte und Charmatz lange auf uns zeigte, ein zärtlich eingeleiteter Tanz mit einem Zuschauer. Sein Verweis auf die Allgemeingültigkeit der Ergebnisse seiner Selbsterforschung. Und die Einladung, es selbst zu tun.
„Somnole“ ist ein tiefes, ehrliches Selbstporträt einer komplexen Künstler-Persönlichkeit, das gleichzeitig Werkzeuge vermittelt zur Heilung seiner selbst und einer Gesellschaft. Beeindruckend wegen der physischen Leistung und der Schonungslosigkeit, Bescheidenheit, Direktheit und absoluten Offenheit. Und ohne jede Attitüde. Das Stück steckt voller Lebenskraft, voll vom Willen eines starken und aktiven Bewusstseins, das sich ohne Widerstand gegen das eigene Sein der Macht des Un- und Vorbewussten hingibt. Die Offenheit für alles in ihm, das Annehmen dessen, was kommt, was geschieht, was hervordringt aus dem Dunklen, sind beispielgebend. Und gesund. Er sträubt sich aktiv gegen alle Ablenkungen mit dem Ziel, sich selbst zu spüren, sich von seinem Unterbewussten Geschichten über sich selbst erzählen zu lassen. So wie Träume es tun. Er lässt diese Geschichten zu. Es darf sein. Ich darf sein! Ohne Deutung. Ohne Wertung. Ich bin gut. Wunderbar.
Boris Charmatz mit „Somnole“ am 08.07.2023 im Odeon bei ImPulsTanz