Welch wunderbarer Auftakt ist dem ImpulsTanzFestival zum 40. Geburtstag mit Lucinda Childs und Robert Wilson gelungen! Nicht nur, dass hier die Geschichte des Postmodern Dance verkörpert wird, sondern auch, weil in „Relative Calm“ die über 80-jährige Choreografin einen für sie neuen Weg beschritt, indem sie sich an Stravinskys Pulcinella-Suite und damit erstmals an ein Werk der Neoklassik wagte.
„Relative Calm“ vereint es in dieser Tryptich-Version aus dem Jahr 2022 mit Musik von Jon Gibson, Komponist der ursprünglichen Fassung (1981) und John Adams und damit mit der Aufführungstradition, die Lucinda Childs als Choreografin der Judson Church Group im New York der 1960er Jahre zu entwickeln begann. Im kreativen Hub dieser experimentierfreudigen Gruppe etablierte Childs einerseits die minimalistisch-repetitive Tanzsprache als ihr Markenzeichen, andererseits verwendete sie schon damals Gegenstände und Texte in ihren Arbeiten. Den Durchbruch hatte sie Ende der 1970er Jahre mit „Einstein on the Beach“, einem ikonischen Werk der Postmoderne zur Musik von Philip Glass in der Regie von Robert Wilson und mit Sol LeWitt als Ausstatter.
Das darin verwendete Bewegungsmaterial findet sich nun auch im ersten Teil von „Relative Calm“ zu Musik von John Gibson, sowie im letzten Part zum Score von John Adams. Silber bzw. weiß gekleidete Tänzer*innen des MP3 Dance Project unter der Leitung von Michele Pogliani füllen die Bühne mit Schritten, Drehungen, Beinschwüngen, und – als Steigerungsstufe – kleinen Sprüngen. Figuren, die Zeit und Raum in einer Art von interstellaren Beziehungen verkörpern. Ganz im Geiste von Merce Cunningham und doch noch viel konsequenter umgesetzt als der Gründer der Postmoderne dies tat. Hier wird auch nichts mehr dem Zufall überlassen. Im Gegenteil: die Musik und die Bewegung sind akribisch genau aufeinander abgestimmt.
Der Tanz wird im Wiederholmodus bald vertraut, Veränderungen werden erst wahrgenommen, nachdem sich die Moves durch subtile Verschiebungen in einem neuen Muster manifestieren. Robert Wilson animiert dafür im ersten Teil goldene Balken, die sich ständig neu auf dem Bühnenhintergrund anordnen. Ein goldener Ball gleitet lautlos über den Köpfen der Tänzer*innen über die Bühne. Dieses Motiv wird im letzten Teil wieder aufgegriffen. Zu John Adams folgen in den Videoprojektionen Kugel-Formationen dem rhythmischen minimalistischen Score. Auch heute noch ist die hypnotische Kraft dieser Arbeit ungebrochen.
Der Mittelteil des Abends, eine szenische Anordnung zur Igor Stravinskys Pulcinella-Suite, bricht die vertraute Monotonie. Childs deutet mit drei Haupttänzer*innen eine Art von Handlungsballett an, mit Hebungen und Einzelaktionen, während das Ensemble auch hier in ihrem Kodex einfacher Fortbewegung agiert. In den Kostümen sind Referenzen an die Commedia dell’Arte angedeutet, im Tanz tauchen Volkstanzelemente auf Wilson taucht die Bühne in tiefrote, dramatische Farbenspiele und lässt sich durch die Musik zu immer intensiveren Liniengestaltungen leiten, die mit einem einfachen roten Kreis beginnen, sich zu einem Auge ausweiten und schließlich in einem wilden Graffiti den Prospekt in eine rote Fläche verwandeln.
Obwohl Childs hier choreografisch neue Wege erkundet, bleibt die kühle Distanz bestehen, die die musikalische Wahrnehmung zu verstärken scheint. Jedenfalls eröffnet sich in der von PMCE Parco della Musica Contemporanea Ensemble unter der Leitung von Tonino Battista aufgenommenen Version Stravinskys Bearbeitung barocker Vorlagen und zeitgenössischer Interventionen in voller Intensität.
Höhepunkte des Abends sind freilich zwei kurze Interludien, die von Lucinda Childs persönlich gestaltet werden. Vor dem Hintergrund eines jagenden Leoparden bzw. einer donnernden Büffelherde, rezitierte sie kurze Passagen aus Nijinskis Tagebuch auf Englisch und Französisch und lässt die gebrochenen Emotionen des Textes durch kurzes, bitteres Auflachen durchschimmern.
Welche Eleganz dieser Grande Dame des Postmodern Dance auch im hohen Alter! Zusammen mit MP3 Dance Project ist sie bei diesem ImPulsTanzFestival in „distant figures“ noch einmal in Aktion zu erleben.
Lucinda Childs / Robert Wilson: „Relative Calm“ am 7. Juli im Volkstheater. Ludind Childs & MP3 Dance Project: „Distant Figure“, 16. und 17. Juli im Akademietheater im Rahmen von ImPulsTanz (bis 12. August)