Weltuntergangsstimmung, Desorientierung und Ratlosigkeit ziehen sich wie ein roter Faden durch die Arbeiten bei den Wiener Festwochen. Während William Kentridge dies bereits mit dem Titel „Sibyl“ vorwegnimmt, manifestierte es sich bei „Exit Above“ (Anne Teresa De Keersmaeker) in der choreografischen Form und bei „Melancholic Ground“ (Doris Uhlich) im Ambiente eines Kinderspielplatzes.
In der Tat bietet das heutige Weltbild nicht gerade komfortable Aussichten und diese krisenbehaftete Zeit – ich erspare uns die Aufzählung – spiegelte sich – natürlich – in den künstlerischen Produktionen der Festwochen wider. Selbst auf dem Sparefroh-Kinderspielplatz im Donaupark will kein rechte Spielfreude aufkommen, wenn die Darsteller*innen unterschiedlichen Alters, einige davon im Rollstuhl, über das Areal verteilt meist einsam agieren, nachdem sie doch zuvor in einer langen Schlange, Körper an Körper aus dem Kanal der Rutsche erschienen, sozusagen geboren wurden.
Doch gemeinsames Spielen ist fast unmöglich, die Weite des Areals lockt jede*n Melancholiker*in auf seine*ihre eigene Entdeckungsreise. Der Titel „Melancholic Ground“ könnte an diesem grauen Samstag-Vormittag, an dem ich die Vorstellung sehe, nicht treffender sein.
Anne Teresa De Keersmaeker: „Exit Above“
Am Auffälligsten schlägt sich diese Welt im Aufruhr in der Choreografie der belgischen Ausnahmechoreografin Anne Teresa De Keersmaeker nieder. Ihr Markenzeichen sind stringente, streng formalen Anordnungen zu unterschiedlichen Musikstücken. In „Exit Above“ wollte sie diese musikalisch-tänzerische Recherche auf die Pop-Musik ausdehnen. Geplant war eine Ode an den Pop à la ABBA. So beginnt der Abend zwar mit einer für De Keersmaeker typischen Ensembleszene, in der sich die Gruppe aus 13 Tänzer*innen in musikalischer Gangart unisono – mit einigen dezenten Brechungen – über die Bühne bewegt. Doch die melancholische Stimmung des ersten Songs der jungen Sängerin Meskerem Mees, „Walking Blues“, zerstört jede Hoffnung, dass sich hier etwas im Geiste der unbeschwerten Heiterkeit der schwedischen Popgruppe entwickeln könnte.
Und tatsächlich hat die Choreografin bald umgeschwenkt, und unterschiedlich Quellen herangezogen: Texte aus Shakespeares Sturm, Walter Benjamins „Engel der Geschichte“ über Paul Klees „Angelus Novus“. Meskerem Mees und der Gittarist Carlos Garbin steuern dazu ein eindrucksvolles Blues-Repertoire bei, dazwischen brummt und schrillt der unheilvolle elektronische Sound von Jean-Marie Aerts. Mit choreografischen Versatzstücken verdichten sich diese Ingredienzien über 90 Minuten zu einem Statement über Umwelt-Katastrophen, zu einem Ausdruck der Verunsicherung. Die Einzelteile bleiben isoliert, es fehlt der verbindende Bogen und das Publikum verliert den Faden, klatscht beim vermeintlichen Schlussbild. Doch danach geht es nochmals weiter.
Abseits von musikalischen Strukturen verlor sich De Keersmaeker hier in der Fülle der Ideen. Wie sehr sich diese Arbeit von ihren fesselnden Musikchoreografien unterscheidet, kann man demnächst bei Impulstanz vergleichen, wenn sie wieder mit „Fase, Four Movements to the Music of Steve Reich“ zu sehen sein wird.
William Kentridge: „Sibyl“
Die Suche nach einer Antwort auf die Probleme dieser Welt ist bereits im Titel von William Kentridges zweiteiligem Programm angelegt, der sich auf die antike Prophetin Sibylle bezieht. Im ersten Teil sieht man im Kurzfilm „The Moment has Gone“ den Künstler bei der Arbeit, erlebt, wie sich seine Kohlezeichnungen in der Animation zu Narrativen entwickeln. Die Kreationen entfalten ihr Eigenleben und erzählen davon wie nahe Zerstörung und Schöpfung einander sind. Dazu liefern der Pianist Kyle Shepherd, der auch für die Kompositionen des Abends verantwortlich zeichnet und ein hinreißendes Männer-Gesangsquartett den musikalischen Rahmen. Die beschriebenen Blätter, die in dem Film auftauchen, könnten Fragen an und Antworten von Sibylle sein, wie etwa „Starve the Algorithms“, „Wait again for better Gods“, „But no place will resist destruction“. Sie stehen auch in der Inszenierung des zweiten Teils im Zentrum einer musikalisch-tänzerischen Verschmelzung mit projizierten Trickfilmen.
Die englischen Texte mischen sich mit den Gesang in südafrikanischen Sprachen, die Tänzerin steigert sich in eine Trance, die ihre Bewegungen immer hemmungsloser steigert, ohne dass sie sich vom Platz bewegt. Der bildende Künstler Kentridge verlässt immer wieder die Bühne um sich in seiner ureigensten Domäne, der Zeichnung auszudrücken: Der Übergang von einer Szene zur anderen wird durch ein Intermezzo begleitet, bei dem auf den Vorhang Animationen zu Klaviermusik bezeigt werden. Auf der Bühne dahinter wird in Windeseile jeweils eine andere Umgebung dargestellt (Bühne: Sabine Theunissen) und die farbenprächtige Kostüme von Greta Goiris gewechselt. Im Lichtdesign von Urs Schönebaum manifestieren sich raffinierte Schattenspiele. „Waiting for Sibyl“ verkörpert mit seinem Medienmix eindrucksvoll und bildgewaltig den prophetischen Charakter der titelgebenden Figur – mysteriös, rätselhaft und doch kraftvoll.
Doris Uhlich: "Melancholic Ground", Sparefroh Kinderspielplatz im Donaupark, gesehen am 10. Juni
Anne Teresa De Keersmaeker: "Exit Above" in der Volksoper Wien, gesehen am 16. Juni
William Kentridge: "Sibyl" im MQ, Halle E am 19. Juni (Premiere)
alle im Rahmen der Wiener Festwochen