Premiere in Düsseldorf – und viele im Publikum denken „Hamburg“. Denn Demis Volpi, als Ballettdirektor noch Martin Schläpfers Nachfolger an der von den Nachbarstädten Düsseldorf und Duisburg getragenen „Oper am Rhein“, will zur Saison 2024/25 nach Hamburg wechseln und dort, nach dessen dann 51 Direktionsjahren, John Neumeier ablösen. Mit seiner jüngsten Arbeit zu Adams „Giselle“ schuf Volpi nun ein Stück in jenem Metier, in dem Neumeier nach wie vor einer der großen Meister ist: Im Metier der Neuinterpretation traditioneller Werke des Ballettrepertoires.
Die zu Ende gehende Spielzeit, vielerorts geprägt von populären Titeln, die das coronagehemmte Publikum zurück in die Häuser locken sollten, sah viele „Giselles“, oft traditionelle natürlich, aber auch bemerkenswert viele „neue“, mit denen offenbar selbst kleinere und nicht-klassische Ensembles die Hoffnung verbanden, von der Attraktivität des zugkräftigen Titels profitieren zu können.
Um nur ein paar der „Giselle“-Bearbeitungen der Saison 2022/23 zu nennen: Am Münchner Gärtnerplatz suchte Karl Alfred Schreiner die dunkel romantische Geschichte ins Hier und Jetzt identitäts- und machtsensibler Geschlechter zu hieven, auch mittels extrem gedehnter Passagen der Musik – und verhob sich an diesem Versuch mit dem Ergebnis, dass seine Version als Konzept besser funktioniert denn als Erzählung auf dem Theater. Karlsruhe übernahm David Dawsons einst für Dresden geschaffene Neufassung. Für das kleine, moderne Hagener Tanzensemble im östlichen Ruhrgebiet befasste sich Francesco Nappa mit dem Werk. Das English National Ballet kam mit Akram Khans Version von 2016 zu Besuch auf den Kontinent. Und für Straßburg, Colmar und Mulhouse, bei dem neben Düsseldorf-Duisburg zweiten „Ballet du Rhin“, versprach man in der Interpretation durch Martin Chaix eine „feministische“ „Giselle“…
…während ein paar Kilometer weiter südlich, in Basel, eine Übernahme aus Genf aus dem Jahr 2012 die Begegnung mit einer modernen „Giselle“-Fassung ermöglichte, von der man hoffentlich noch viele weitere Aufführungen wird sehen können (wenn auch nicht in Basel, wo ein Direktionswechsel zu einem Total-Abschied von bisherigen Produktionen führt): Dem Schweden Pontus Lidberg gelingt – ganz anders, aber mindestens ebenso überzeugend wie in den 1980er Jahren seinem Landsmann Mats Ek – das grandiose Kunststück, in einer erzählstarken und variationsreichen modernen Tanzsprache eine bewegende „heutige“ „Giselle“-Geschichte zu gestalten, die unmittelbar emotional anspricht und überzeugt und dabei zugleich das traditionelle Werk durchscheinen lässt und so bewahrt.
Auch Demis Volpi in Düsseldorf, dramaturgisch unterstützt von Maurice Lenhard und Julia Schinke, überschreibt die traditionelle „Giselle“ – doch er bewahrt nicht deren Geist, sondern nutzt sie allenfalls als Folie, Zitat und Impuls für einen ganz eigenen Zugriff. Der folgt dem Roman „Die Stunden“ von Michael Cunningham aus dem Jahr 1998 und dessen über drei Zeitebenen hinweg kunstvoll verschlungener Schilderung dreier Frauenleben in den zwanziger, vierziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, miteinander verbunden durch Virginia Woolf selbst und deren Roman „Mrs. Dalloway“. Es geht um die nicht genutzte Chance, ein Leben nach eigener und ganz anderer als der von der Umwelt erwarteten Fasson zu führen – und dazu ist bei Volpi nicht Giselle, sondern Bathilde die Hauptperson.
Bathilde und Albrecht sind hier Teil des Publikums einer „Giselle“-Aufführung, nach der Bathilde der Darstellerin der Giselle begegnet und beide sich Hals über Kopf ineinander verlieben (und Bathilde sich auch in das Milieu und die Menschen am Theater). Am Ende des ersten Aktes folgt Bathilde jedoch Albrecht zurück in ihr bisheriges Leben. Später, als alter Mensch, befragt sich Bathilde, wie ihr Leben an der Seite ihrer Giselle verlaufen wäre, während sie sich an ihr tatsächlich geführtes Leben mit Mann und Kind erinnert.
Geht das zusammen? Virginia Woolf, „Mrs. Dalloway“, Cunninghams „Stunden“ und „Giselle“? In Volpis Inszenierung geht es jedenfalls musikalisch erstaunlich gut. Seine Fassung schert sich wenig um Heinrich Heines Erzählung und den Geist der historischen „Giselle“. Doch auf deren traditioneller musikalischen Grundlage entwickelt Volpi sein Thema wenn nicht in bezwingender, so doch oft in charmanter und momentelang in gar bezaubernder Weise.
Den ersten Akt, der auf dem Theater und hinter seinen Kulissen spielt (Ausstattung: Heike Scheele und Katharina Schlipf), gestaltet Volpi so „bunt“ wie es „Giselle“ von jeher eigen ist. Zum Personal gehören hier neben Bathilde (Doris Becker), Albrecht (Daniele Bonelli) und der die Giselle tanzenden Solistin (Futaba Ishizaki) auch Bühnenarbeiter, Ankleiderinnen und Produktionsassistentinnen. Fast alles ist hier neu choreographiert (später, im zweiten Akt, gar ausnahmslos alles). Volpi konserviert nur wenig Überliefertes – und überträgt es dann auch schon einmal auf andere Personen, Geschlechter und Situationen wie etwa Teile des traditionellen Divertissements auf einen Partytanz der Bühnenarbeiterinnen und -arbeiter. Mit einem Augenzwinkern scheint hier der junge Choreograph für das alte choreographische Material einen neuen „Platz“ in seiner Adaption gesucht zu haben.
Der konzeptionelle Clou in Volpis „Giselle“-Überschreibung ist freilich der zweite, „weiße“ Akt. Hier findet Volpi eine frappierende szenische Entsprechung für Virginia Woolfs literarische Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms, des Erzählens mittels der Gedanken der Personen eines Romans. In Kostümen, die das historische Vorbild verfremdet zitieren, ziehen die Wilis (von Herren und Damen dargestellt) in einem endlosen Strom von links vorne nach rechts hinten über die Bühne – und bringen in ihrer Mitte die Menschen aus Bathildes Leben mit, die sich dann für Momente aus dem Strom lösen. So begegnet die alte Bathilde (Angelika Richter) der Giselle-Solistin von einst und ihrer unerfüllten Liebe zu ihr, begegnet Albrecht und ihrem Kind und immer wieder ihrem jüngeren Selbst. Bis der Strom der Wilis die Erinnerungen wieder einfängt und mit sich nimmt.
Die szenische Idee ist überzeugend und erzeugt berührende Momente, in denen dann doch zumindest kurz der Geist und die Lebensweisheit der traditionellen „Giselle“ sehr nah scheinen, in denen das Thema von Schuld und Liebe und Vergebung (das bei Volpis Bathilde auch Vergebung sich selbst gegenüber ist) zart aufscheint.
Insgesamt jedoch wirkt der zweite Akt zu lang. Anders als seinen historischen Vorgängern geht es Volpi hier – natürlich - nicht (auch) um tänzerische Virtuosität, sondern allein um seine eigene Erzählung. Die jedoch ist – auch dank Volpis Theater- und Erzähltalent – rasch dargestellt, ist zugleich aber auch zu ereignislos und gleichförmig für ein im Vergleich dazu „Zuviel“ an Musik. Wie zuvor schon in der Wahnsinnsszene des ersten Akts, die bei Volpi auf ansonsten leerer Bühne ein langes, zu langes Solo der „Giselle“-Darstellerin ist, die darin ihrer Verzweiflung und Enttäuschung über Bathildes Entscheidung Ausdruck gibt, in ein bürgerliches Leben an der Seite Albrechts zurückzukehren.
So stellen sich an einem Abend, der samt Pause lediglich eindreiviertel Stunden dauert, mitunter doch auch Längen ein. Sie geben Raum, umso mehr den Düsseldorfer Symphonikern unter Leitung von Mark Rohde zu folgen, wie sie die Schönheiten der Musik Adolphe Adams zelebrieren und ihr mitunter geradezu symphonische Tiefe abgewinnen.
Und die Längen geben Raum, dem Gedanken nachzuhängen, weshalb Volpi für ein Handlungsballett über das „Mrs. Dalloway“-Thema überhaupt die historische „Giselle“ wählte, statt ein neues, eigenständiges Werk zu schaffen. Seine „Giselle“ gewinnt dem überlieferten Vorbild jedenfalls keine neue Bedeutungsebene, keine noch nicht bekannte Relevanz für unser Heute hinzu. So ist sie, gerade vor dem Hintergrund des kommenden Wechsels Volpis in das Reich eines Meisters der Neuinterpretation traditioneller Werke des Ballettrepertoires, allenfalls ein Gesellenstück. Immerhin: Ein gelungenes.
Ballett am Rhein, Düsseldorf: „Giselle“ von Demis Volpi, Musik: Adolphe Adam. Uraufführung am 11. Juni 2023. Weitere Vorstellungen bis 24. Juni 2023, und in der Spielzeit 2023-24 ab 2. September in Duisburg und Düsseldorf.