Er balanciert auf einem dünnen Seil zwischen zwei Felsen über dem Abgrund. Nathan Paulin scheint alles unter Kontrolle zu haben und doch ist das Gefahrenpotenzial ständig präsent. Der Seiltänzer auf dem Hochseil erzählt von seinen Empfindungen, seinen Ängsten, wie er seine Umwelt wahrnimmt, welchen Einfluss das Wetter, vor allem der Wind auf seine Extremüberquerungen in lichten Höhen hat.
Man sieht ihn auf dem Seil liegen, hängen, fiebert mit ihm, wenn er mit Kniebeugen die Highline zum Schaukeln bringt.
Und plötzlich schlittert er aus dem Video (Jean-Camille Goimard) auf das Seil, das über die Bühne gespannt ist. Über die Kletterwand im Bühnenhintergrund landen dort auch neun Akrobat*innen, die das Publikum eine Stunde lang mit ihrer Kunst verzaubern werden. Sie entwickeln einen ständigen Fluss aus Körperskulpturen, gleiten aufeinander, stoßen sich von der Kletterwand ab, um sich wieder übereinander zu stapeln, einander im Sprung aufzufangen, nach hinten zu gleiten und in kurzen Momenten den Seiltänzer über ihnen einzubeziehen.
Es ist die Leidenschaft der Extremsportler, die die Choreografie von Rachide Ouramdane bestimmt, und er übersetzt die Aktionen in die fließende Poesie des Tanzes. Noch nie waren diese Stunts so geschmeidig, die Flüge der Luftakrobatik so schwerelos, das Vertrauen in die Partner*innen so intensiv zu erleben. Sie alle gehen an ihre Grenzen, immer wieder verschieben sie sie etwas weiter, gehen über sich hinaus. Ja, auch hier schwingt die Gefahr immer mit, überträgt sich die angespannte Konzentration auf das Publikum.
Bei aller Faszination und Magie, die diese Ausnahmekünstler*innen bieten, klammert Ouramdane romantisierende Verklärung aus. Die Erzählungen einer Akrobatin, die einen Unfall beschreibt, macht die Realität ihrer Obsession, bei der das Scheitern oft folgenschwer verläuft, für die Zuseher*innen erfahrbar. So nahe war man diesen Extremkünstler*innen wohl noch nie. Virtuosität ist hier kein Ziel, sondern eine Vorausssetzung. Jean-Baptiste Julien liefert dazu einen rhythmischen Sound mit harten, trockenen Gitarrenriffs.
Im letzten Bild verschwimmen Innen- und Außenwelt wieder ineinander, wenn die Kletterwand, an der sich Extremkletterin Camille Doumas hinaufhantelt von Naturaufnahmen einer Felswand überlagert und verdoppelt wird. Wenn die Kamera nach und nach hinauszoomt bleibt sie nur mehr als kleiner Farbtupfer auf der riesigen grauen Steinplatte erkennbar.
Überwältigend!
Rachid Ouramdane: „Corps extrêmes“ am 16. Juni im Festspielhaus St. Pölten