Skandale, Zensuren und Aufführungsverbote begleiten die Geschichte von Franz Wedekinds Lulu-Tragödie. Heute zählt sie zu den meist gespielten modernen Stücken an deutschen Theatern, ebenso wie Alban Bergs Oper, die bei den Wiener Festwochen – musikalisch großartig – in der Inszenierung von Marlene Monteiro Freitas zu sehen war, die eine eigene, distanzierte Sicht auf das Drama präsentierte.
Lulu steht im Mittelpunkt von Wedekinds Tragödien „Erdgeist“ und „Die Büchse der Pandora“. Alban Berg machte daraus die Oper „Lulu“, allerdings ist sie unvollendet, der dritte Akt blieb unorchestriert. Die Wiener Festwochen-Produktion zeigt das Fragment aus zwei Akten und einem Epilog mit zwei Orchesterstücken aus dem dritten Akt.
Berg hat sich bei der Transkription des Textes weitgehend an Wedekinds Wortlaut gehalten und den mörderischen Plot in dramatische musikalische Anordnungen gegossen. Lulus sozialer Aufstieg von einem Findelkind wird durch die Interventionen ihres Ziehvaters Dr. Schön geebnet. Sie ist Kindfrau, manipulative Circe, mörderische Femme Fatale und löst in ihren Verehrern ein unwiderstehliches Begehren aus, das sie schließlich in den Tod treibt. Der erste Ehemann erliegt einem Herzinfarkt, als er seine Frau mit dem Maler ertappt. Dieser wird in den Freitod getrieben, als er erfährt, dass Dr. Schön ihr Liebhaber ist. Diesen manipuliert sie so lange, bis er sie heiratet, um ihn dann nach Strich und Faden zu betrügen, zum Beispiel mit Schigolch oder mit seinem Sohn aus erster Ehe Alwa). Als Schön rasend vor Eifersucht ausrastet, erschießt ihn Lulu und muss ins Gefängnis. Die lesbische Gräfin Geschwitz bereitet ihre Flucht vor: sie wird mit Lulu die Rollen tauschen und statt ihr die Strafe absitzen. In Freiheit überredet Lulu Alwa mit ihr zu fliehen. Hier endet die Oper. (In Wedekinds Sittenbild der bürgerlichen Doppelmoral wird Lulu am Ende ein Opfer von Jack the Ripper.)
Die Mehrdeutigkeit von Lulu ist eine der Kernfragen von Wedekinds Tragödie. Ist sie eine selbstbestimmte Frau, die die Männer für ihre Belange benützt? Oder Opfer sexueller Begierden, die sie weiter und weiter treiben und in eine zunehmend aussichtslose Situation manövrieren. Marlene Monteiro Freitas enthält sich scheinbar eines Kommentars, wenn sie zur Opernhandlung eine Parallelwelt mit acht Tänzer*innen inklusive einer Kontorsionistin entwirft, die nur gelegentlich mit der Musik oder den Sänger*innen interagieren.
Die Kostüme sind in schwarz-weiß gehalten, Farbtupfer liefern die blauen Schuhe, Kappen und Gummihandschuhe der Tänzer*innen, die wie ferngesteuert agieren. Erst am Ende offenbart die Regisseurin ihre Einschätzung von Lulu: Eine verkrüppelte, kleine KIndfrau im Hochzeitskleid wird von einem Mann wie eine Marionette auf der Bühne geführt. In Monteiro Freitas Interpretation wird Lulu also zum Opfer männlicher Manipulationen.
Die Handlung erfährt man vorwiegend aus dem Text. Die darin beschriebenen Aktionen werden selten dargestellt, vielmehr sind Sänger*innen und Tänzer*innen dissoziiert. Diese Lulu ist ent-erotisiert und ent-emotionalisiert. Die Leidenschaft der Männer, die sie für sich zu nutzen versteht, bleibt auf einer platonisch-abstrakten Ebene.
Das Orchester sitzt auf einer Ebene über der Bühne, die Sänger*innen befinden sich meist am Rande der Bühne oder beim Orchester. Dort diktiert Lulu den Brief, mit dem Dr. Schön seine Verlobung mit einer anderen auflöst, indem sie den Wortlaut dirigiert – eine der eindringlichsten Szenen an diesem Abend.
Doch zumeist schafft man es nicht, die beiden Universen dieser Inszenierung miteinander zu versöhnen. Als Zuseherin sehe ich mich gezwungen Prioritäten zu setzen, mich für die hochkomplexe Musik oder das Bühnengeschehen zu entscheiden. Ich wählte die Musik. Diese wurde souverän vom ORF-Radio-Symphonieorchester Wien unter der Leitung von Maxime Pascal gespielt, das die vielschichtigen Facetten der Komposition in ihren dramatischen Kontext brachte. Vera-Lotte Boecker ist eine ideale Besetzung. Die zarte Sängerin könnte wohl auch überzeugend die Tänzerin Lulu verkörpern. Ebenso großartig Bo Skovhus als Dr. Schön, der bei aller Abstraktion das Dilemma seiner Begehrlichkeiten zu vermitteln versteht. Um sie war mit Edgaras Montevidas (Alwa), Cameron Becker (Der Maler), Kurt Rydl (Schigolch) und Anne Sofie von Otter (Gräfing Geschwitz) ein überaus erlesenes Sängerensemble im Einsatz.
Alban Berg: „Lulu“. Ein gemeinsames Projekt von Wiener Festwochen, Musik Theater an der Wien im Museumsquartier und RSO. Permiere am 27. Mai, gesehene Vorstellung am 6. Juni im Museumsquartier | Halle E.