Die erfüllende Premiere von Sol Léon und Paul Lightfoot zum Auftakt der Münchner Ballettfestwoche 2023 war ein ergreifendes Panoptikum aus Lebensfreude und Vergänglichkeit. Dieser Zweiteiler hat eine enorme, ergreifende Wucht. Ganz wie der Titel „Schmetterling“ es verspricht, kommt alles Erdenschwere, das die namenlosen Protagonisten auf der Bühne umtreibt, in seiner Vehemenz und inhaltlich aufgeladenen Intensität letztlich herzgewinnend über die Rampe. Emotional nicht berührt oder gar mitgerissen zu werden, bleibt schier unmöglich bei einer Riege von insgesamt 20 beteiligten Tänzerinnen und Tänzern, die hier – mimisch wie körperlich fantastisch – eine gigantische Palette an Gefühlskräften mit vulkanischer Power walten und wirken lassen, sogar wenn sie im Zarten etwas andeuten.
Das Choreografen-Duo Sol Léon und Paul Lightfoot (siehe auch Interview mit Sol Leon auf tanz.at) hat in beide seiner Stücke – „Silent Screen“ aus dem Jahr 2005 und „Schmetterling“, das 2010 vom Nederlands Dans Theater uraufgeführt wurde – so viel gepackt, dass man den neuen Premieren-Doppelabend des Bayerischen Staatsballetts nur reich beschenkt und eigenartig beglückt verlassen kann. Dies kommt fast einem Paradox gleich. Denn beide Stücke, die allein schon visuell in ihrer Ausstattung bis auf wenige Ausnahmen in Schwarzweiß gehalten sind, thematisieren – über weite Strecken schwer nacherzählbar – Tiefgründiges.
Mitunter mag das von eigenen Erfahrungen ihrer Schöpfer geprägt sein. Ohne einem stringenten roten Erzählfaden zu folgen, werden da in nahtlos aneinander gehäkelten dramatischen Miniaturen Veränderungen im Miteinander, Brüche sowie der Umgang mit Alter und Tod, mit dem Sich-Selbst-Verlieren und unaufhaltsamen Verfließen von Zeit in einer sehr herausfordernden Bewegungssprache verhandelt. In München sind beide Werke – erstmals überhaupt – in Kombination und von einer anderen Kompanie als dem NDT getanzt zu entdecken – ergänzt um ein eigens hinzukreiertes Zwischenspiel während der Pause. Man sollte nach Teil 1 also sitzenbleiben, wenn man will, oder zumindest früher in den Zuschauerraum zurückkehren.
Das Gesamtergebnis ist absolut sehenswert. Lange tobt der Beifall nach diesem Wurf, den Münchens voriger Ballettchef Igor Zelensky – seinerzeit durchaus visionär für das Ensemble – eingefädelt hatte. Seinem Nachfolger Laurent Hilaire, der an diesem Abend neben Staatsopernintendant Serge Dorny selbst begeistert applaudiert, hat er damit einen Glücksgriff zur Repertoire-Erweiterung beschert.
Gleich zu Beginn in „Silent Screen“ sieht man ein Paar. Neben ihnen ragt die Silhouette eines Dritten auf. Sie stehen vor einem großflächigen Leinwand-Paravent, über den filmisch Wellen an einen ins Nichts führenden Küstenweg branden. Als sich Eline Larrory (was für ein ausdrucksstark-natürlicher Kompanie-Neuzugang!) und Severin Brunhuber (im Für-Sich-Einnehmen immer besser) langsam dem Publikum zu und in den Raum hinein wenden, verschwindet die Filmfigur in der Ferne. Die Tänzer starten auf kleinster Fläche nebeneinander mit einem Beziehungstrip durch, der traumgleich keiner realen Logik folgt. Gut möglich, dass ihnen in den später mit einer riesigen schwarzen Schleppe aus dem Graben auftauchenden Gestalten Alter Egos begegnen. Die Bilder lassen sich individuell, aber auch ganz anders deuten. Genau diese Polyvalenz macht die Reichhaltigkeit des neuen Ballettabends aus.
Aus der Zeit gerissen, motorisch abstrakt und zugleich sehr assoziationsstark durchläuft das Paar zu Musik von Philip Glass (vom Band: „Glassworks“ und „The Hours“) unterschiedliche Phasen einer Partnerschaft. Vergleichbar einem vom Stummfilm inspirierten Gefühlskaleidoskop, das im Mittelteil von einem weiteren Mann (Andrea Marino), einem jugendlich verknotet-frischen Pas de deux in Weiß (Bianca Teixeira, Matteo Dilaghi) und einem schmissigen, roh ausgelassenen Männertrio (Osiel Guneo, Giovanni Tombacco, António Casalinho) flankiert wird. Auch das Mädchen im roten Mäntelchen aus dem Film (Margarita Fernandes) stößt hinzu – in ihrem taff-eckigen Auftreten so gar nicht zerbrechlich.
Keinen dieser Charaktere möchte man missen. Das trifft auch auf das Panoptikum kurioser Typen im titelgebenden zweiten Teil „Schmetterling“ zu. Jeder für sich punktet als Bühnenerlebnis der besonderen Art, so beredt und von innen heraus impulsiv wie theatralisch aufgeladen spielen sie eine unglaubliche menschliche Farbigkeit aus. Eine echte Entdeckung aus dem Ensemble: Rafael Vedra, dessen Grimassen an einen schaurigen Maori-Dämon erinnern. Zudem sind einem die Interpreten, die zeitweise durch das Aufreißen ihrer Münder, wildes Zungeblecken oder urplötzliche Lautäußerungen elektrisieren, wegen des überbauten Orchestergrabens viel näher als sonst im Münchner Nationaltheater.
Die wiederholt fröhlich über die Bühne swingenden Ensemble-Ketten könnten ein Indiz dafür sein, dass das Werk kurz nach Pina Bauschs Tod entstanden ist. Im Kern geht es jedoch um eine alte Mutter, deren Lebensgeister verglimmen bzw. schwinden und deren Erinnerungen ineinander verschwimmen – musikalisch entfesselt durch Kompositionen von Max Richter und Love Songs der Indie-Rock-Band Magnetic Fields, deren Texte im Programmheft sogar übersetzt nachzulesen sind. Mimisch zwischen Lachen und Weinen, Bewusstsein und Verwirrung atemberaubend dargeboten von der grandios bucklig-verbogenen Ersten Solistin Laurretta Summerscales.
Der Abschied des Sohnes (überaus eindrücklich: Robin Strona) – inszeniert in einem sich langsam auflösenden kulissenartigen Mini-Bühnen-Erfahrungsraum – gerät zu einem Fest voller Intimitäten. Bausteine der menschlichen Existenz und Wesensfacetten unterschiedlicher begleitender Figuren wirbeln dabei so lange herum, bis die Bühne hinter Robin Strona am Ende weit und leer zurückbleibt.
Liebe ist der Kitt, der dem Leben Kraft und Richtung gibt. Wie durch ein Pflaster werden die Schmerzen der Vergänglichkeit gelindert und menschliche Beziehungen über den Verlust hinaus wertvoll gemacht. Nach von Tollheiten gespickten zweimal 45 Minuten tänzerischer Rasanz, die verfliegen, als sei höchstens die Hälfte der Zeit vergangen, führen Léon & Lightfoot am Ende berührend-empfindsam und sporadisch fast launig-humorvoll vor, dass es auch wunderschön sein kann, das Leben gehen zu lassen, während es andere gleichzeitig neu für sich (er)finden (müssen). So ist dies nur ganz selten in der choreografischen Kunst zu erleben.
Bayerisches Staatsballett: „Schmetterling“, Premiere am 31. März 2023. Nächste Vorstellungen: 21., 28., 29. April, 2., 3., 28. Juni, 3. Juli, 10. November, 4. Dezember jeweils 19.30 Uhr, im Nationaltheater München