Die Premiere von „Chasing a Ghost“ fand im Herbst 2019 im Art Institute of Chicago statt, die österreichische Erstaufführung gab es nun nach coronabedingter Verschiebung im Tanzquartier Wien. Fünf TänzerInnen und zwei Pianisten performen Duette mit unterschiedlichsten Bezogenheiten. Nur 50 Minuten lang ist die Konzert-Tanz-Performance. Doch wirkmächtig. Und „unheimlich“.
„The uncanny“, das Unheimliche, so auch der Titel einer Studie von Sigmund Freud, ist der international tourenden und äußerst produktiven schweizerisch-griechischen Choreografin und Tänzerin Alexandra Bachzetsis Quelle und auch Ziel ihrer Geisterjagd. Sie inszeniert Duette in mannigfaltigen Konstellationen, im Sichtbaren, physisch Repräsentierten, und im Unsichtbaren, psychologisch Impliziten. Mit dramaturgischer Virtuosität bringt sie eine Fülle von aus unterschiedlichsten Perspektiven fein beobachteten Aspekten des menschlichen Seins auf die Bühne.
Verschiedenste Duette zeigen sich parallel oder seriell. Zwei Klaviere stehen sich gegenüber, von den beiden Pianisten Simon Bucher und Mischa Cheung im Duett mit ihrer elektronischen Musik bespielt, die zwei Frauen (Alexandra Bachzetsis und Johanna Willig-Rosenstein) rekeln sich schon vor Beginn lasziv im Setting, der Tänzer und Musiker Owen Ridley-DeMonick begleitet am Piano die singende Alexandra Bachzetsis, die gleich- und zwischengeschlechtlichen erotischen Begegnungen, das Duett mit der Kleidung, die man trägt und das mit seiner an die nackte Haut grenzenden Umwelt, das mit der Kamera, mit dem Pianisten und dem Mikrofon, das mit dem Raum und den Requisiten darin, das des wie im Softporno kopulierenden Paares und seinen Geschlechts- und Machtverschiebungen, mit dem Publikum als Ganzes und direkt angeschauten Einzelnen, das mit Spiegelungen in identischem Outfit, im Tanz, der das Spiegelbild bald wieder in seine Selbstständigkeit entlässt, im gleichen oder anderen Geschlecht, das Duett mit jeder Situation und dem Stück selbst, das mit seinem Körper, seinen bewussten und unbewussten psychischen Inhalten.
Entfremdung allenthalben, gezeigt durch die des Klaviersounds mit elektronischen Mitteln oder die des Menschen mittels fahrbarem Monitor, der sich überlagernde Geisterbilder eines Gesichtes oder, neben den Video-Drehort rechts gefahren, ein zweidimensionales Abbild des Originals direkt neben ihm zeigt. Auch die Kostüme, die eigentlich keine sind, sondern Entwürfe der Modedesignerinnen Léa Dickely und Hung La / Kwaidan Edition, spiegeln den Anderen oder machen Unbewusstes sichtbar.
Im Zusammenspiel von Tanz, live interpretierter Klavier- und elektronischer Musik, Gesang, Live-Video, Kostümbild und dem von Bühne und Auditorium entstehen in „Chasing a Ghost“ Duette der Polarität. Als Machtspiele, Gewalt, Begehren, Identifikationen mit tradierten Geschlechter-Merkmalen und -Rollen und vielen anderen physischen Repräsentations-Mechanismen und -Techniken. Sexuelle Identitäten löst Bachzetsis spielerisch in Genderfluidität auf.
Eine Kampfsport-Sequenz wird zu einer zentralen. Zwei Männer tanzen eine heftige Auseinandersetzung. Die eigenen Vorstellungen von Machtgefügen, vor allem aber verdrängte Persönlichkeitsanteile, vom Gegenüber gespiegelt, werden zum Feindbild im Außen. Im Anderen bekämpfen sie das, was sie unbewusst in sich selbst ablehnen.
Was bleibt, ist eine „unheimliche“ Verunsicherung der eigenen Wahrnehmungen und Überzeugungen bezüglich unseres So-Seins und des Seins der Welt. Sind wir das Original oder nur ein Abbild, eines, das unsere Umwelt und schließlich wir selbst aus uns machten und machen? Was würde mit uns und unserer Position in der Welt passieren, würden wir die hier präsentierten Möglichkeitsräume für uns erschließen und öffnen? Wohin würden wir uns und unsere Wahrnehmung der Welt sich verändern, ließen wir das gleichwertige und -zeitige Nebeneinander der Pole in uns und der Welt zu? Das Entweder-Oder in ein Sowohl-als-auch überführen. Erkennen wir den Wert?
„Chasing a Ghost“ be- und hinterfragt fundamentale Aspekte der menschlichen Existenz, spielt sehnsuchtsvoll mit Idealen, um sie im nächsten Moment zerrinnen zu lassen. Die Spannung, die das Stück aufbaut, wird nur zu einem Teil von knisternder Erotik und der Energie des hämmernden Piano-Sounds erzeugt. Was sie maßgeblich hervorruft, ist die zunehmend deutlich spürbare Brüchigkeit der physischen und psychischen Konzepte von sich selbst, als deren Repräsentant jeder Einzelne im Auditorium sitzt. Das Lockern des Korsetts aus Glaubenssystemen und transparenten Überzeugungen birgt die Gefahr des Ausbrechens von erfolgreich Verdrängtem als groteske Manifestation unheimlicher, weil unerwünschter Aspekte seiner selbst.
Die Schluss-Szene, zwei Männer (Gabriel Schenker, Sotiris Vasiliou) liegen entspannt in identischer Pose hinter einander auf einem Fell, Alexandra Bachzetsis legt sich hinter sie, kommt wie eine freundliche, aber dringende Empfehlung daher. Willst du es schön haben mit dir, deinem Leben und der Welt, akzeptiere und integriere nicht nur deine abgelehnten, verdrängten, unbewussten, sondern, als Mann, auch deine weiblichen Anteile in dir. Alexandra Bachzetsis pflanzt mit dieser hochkomplexen, klugen Performance Fragen in uns ein: Welche höchste Vision haben wir von uns? Sind wir, jeder Einzelne, bereit, diese Utopie zu leben?
Alexandra Bachzetsis mit „Chasing a Ghost“ am 09.12.2022 im Tanzquartier Wien.