Es ist eine interessante Überschreibung des seit der klassischen Antike unverwüstlichen Mythos von der Atriden-Tochter Iphigenie, die derzeit im TAG Theater an der Gumpendorfer Straße zu sehen ist. Angelika Messner inszenierte ihre eigene Textfassung entlang der Vorlage von J.W. von Goethe und fokussierte dabei auf das Motiv des „Opfers“ aus Gender-Perspektive. Wenn auch textlich bisweilen etwas platt, ist es ein schauspielerisch bravouröser Abend.
Das Gute an den sogenannten „Klassikern“ ist ja, dass sie Zeugenschaft für alles Mögliche übernehmen können und auch immer wieder auf ein Neues befragt werden. Dazu gehören die großen Stoffkomplexe der griechischen Mythologie wie jener um Agamemnons Tochter Iphigenie, die in dramatischer Form seit Euripides regelmäßig unter verschiedenen Aspekten theatral verhandelt werden. Naheliegend, dass es im Falle Iphigenies ihre Funktion als Opfer im doppelten Sinn ist, einmal als tatsächliches, rituelles Opfer, und zum anderen als metaphorisches Opfer eines patriarchalen, kriegerischen Systems.
Dominierten in Euripides beiden Tragödien philosophisch-politische Aspekte über Recht und Krieg, so war in Goethes „Iphigenie auf Tauris“ bei aller Implikation gesellschaftlicher Zusammenhänge das Moment der Privatheit samt psychologischer Verfasstheiten vordergründig. Hier hatte sich bereits die bürgerliche Aufklärung manifestiert und mehr noch, die humane Empfindsamkeit als Movens des dramatischen Spiels. Goethe griff den zweiten Teil der Geschichte auf, als Iphigenie durch das wundersame Einwirken der Diana nicht als Versöhnungsopfer getötet, sondern nach Tauris transferiert wird, wo sie als Priesterin Dianas all ihren Einfluss bei König Thoa geltend macht, die bis zu ihrem Eintreffen vorherrschende Praxis der letalen Opferungen fremder Eindringlinge zu verhindern.
Hier setzt auch Messner an und verlegt das Setting vom Tempel der Priesterin in ein Puff. Das ist dramaturgisch schlau, denn damit sexualisiert sie ihre Iphigenie-Figur im Gegensatz zu den männlichen Autoren früherer Zeiten, die ihre Frauen-Bilder offenbar auf eine lebensferne Figur projizieren mussten. Gleichzeitig ist es trotzdem ein streng hierarchischer Ort, da sie hier nicht autonom walten kann, sondern nur unter der Kuratel von Zuhälter Thoa. Messner bleibt eng an Goethes Text, sogar beginnt und endet das Stück mit dessen Versen. Iphigenie macht nun einen Prozess der Selbstermächtigung durch und versagt sich dem Heiratsantrag Thoas ebenso wie den Bitten der Prostituierten, weiterhin für sie zu sorgen. Allerdings gibt es kein Happy Ende wie bei Goethe. Eher sieht es so aus, als würde Diana zur Göttin des Gemetzels.
Davor noch wird es fast ein wenig zu woke, wenn ihr Bruder Orest mit Freund Pylades eintrifft und sich die beiden als schwules Paar herausstellen. Das trägt nicht unbedingt zu mehr Deutlichkeit des Anliegens bei, aber kann man natürlich machen. Dank der ausgezeichneten schauspielerischen Qualitäten des TAG-Ensembles (allen voran Michaela Kaspar als Iphigenie, Lisa Schrammel als Prostituierte und Jens Claßen als Thoa) ist es insgesamt ein eindringlicher Abend, unterstützt durch die musikalischen Zwischennoten von Jon Sass auf der Tuba. Vom Text hätte man vielleicht etwas weniger sprachliche Plattheiten, trotz Adorno-und Goethe-Zitaten erhofft, und auch weniger Fokussierung auf Iphigenies weibliches Self-Empowerment. Desideratum bleibt ein größerer philosophischer Wurf des Iphigenie-Stoffes aus feministischer Perspektive, der über eine individualistische Befreiungsthematik hinausreicht.
TAG: „Iphigenie“, Premiere am 30. November 2022. Weitere Vorstellungen am 13., 14., 16., 17., Dezember; 17., 18. Jänner; 16., 17., 18. Februar.