Zum Einstand bot der Neo-Intendant des Theaters an der Wien, Stefan Herheim, einen barocken Schatz in der Kammeroper: „La Liberazione“, eine Bearbeitung von Francesa Caccinis Oper, uraufgeführt 1625 in der Villa Poggio Imperiale in Florenz. Diese erste bekannte Opernkomposition einer Frau ist als einziges Werk Caccinis erhalten geblieben. Ergänzt um Madrigale gerät die Inszenierung von Ilaria Lanzino szenisch interessant, während die musikalische Ebene eher durchwachsen ist.
Francesca war die Tochter des heute noch als Komponisten bekannten Giulio Caccini (1551-1618), der am Medici-Hof wirkte und zu Lebzeiten vor allem Sänger und Gesangspädagoge war. Ihm kam in der frühen Geschichte der Oper eine wichtige Rolle als Autor der „Nuove musiche“ und Theoretiker des neuen „Recitar cantando“-Stils zu, der den monodischen Gesang mit Verzierungen im Sinne des expressiv-dramatischen Gesanges propagierte. Er war übrigens auch Mitglied der berühmten Camerata Fiorentina.
Auf Tochter Francesca traf dasselbe Berufsbild zu, und sie war, wie auch ihr erster Ehemann, abenso Hofmusikerin der Medici. Während ihrer zweiten Ehe mit einem Adeligen durfte sie für ihre Arbeit keinen Lohn annehmen, wie es ihrem sozialen Status entsprach. Erst nach dem Tod des zweiten Mannes wurde sie wieder Berufsmusikerin und dann auch Hofdame bei den Medici.
Gefördert vom kreativen familiären Umfeld und dank ihrer Begabung schuf sie einige Kompositionen, von denen nur das Balletto „La liberazione di Ruggiero dall’isola d’Alcina“ erhalten ist. Als „Balletto“ wurden damals sämtliche musiktheatrale Formen bezeichnet, die Musik und Tanz enthielten. Und den gab es in Caccinis Oper ebenso wie ein Roßballett, das von Auftraggeberin Maria Magdalena, Erzherzogin von Österreich und Großherzogin der Toskana, bestellt worden war. Die Witwe Cosimos II. regierte damals gemeinsam mit Christine von Lothringen und benötigte, wie es an den Höfen üblich war, ein repräsentatives Werk, das auf ihren politischen Gast zugeschnitten war, den polnischen Kronprinzen Wladyslaw.
Die Geschichte basiert auf dem in jenen Tagen beliebten Epos „Orlando furioso“ von Ludovico Ariosto und erzählt von Ruggiero, dem Thronfolger und Verlobten Bradamantes. Ihn hat die Zauberin Alcina auf eine Insel entführt, wo er sich nun dem Müßiggang und Ausschweifungen hingibt, was die Zauberin Melissa empört. In Gestalt des Atlante möchte sie ihn zurückholen, was Alcina verständlicherweise nicht gefällt. Dennoch gelingt das Unternehmen und Ruggiero verlässt die Insel, die nicht mehr lieblich scheint, sondern zur Steinwüste wird. Ferdinando Saracinellis Libretto rückt wahrscheinlich nicht ganz zufällig zwei Frauen-Figuren als Heldinnen in den Fokus, die vermutlich Maria Magdalena und Christine von Lothringen als mächtige Herrscherinnen spiegeln.
Bei Lanzino wird die Bühne zur stilisierten Perspektivbühne, die den Ausschnitt einer phantastischen Landschaft zeigt. Martin Hickmann gestaltet diese als abstrakten, düsteren Kriegsschauplatz mit Panzer-Elementen. Den farbenfrohen Gegenpart bieten die in bunte Kostüme aus Tüll gekleideten Protagonist*innen. Alcinas oranges Gewand etwa erinnert an das Kleid der Commedia-Italiana- Figur Pulcinella mit Knopfreihe. Melissas Auftritt geschieht effektvoll von außerhalb der Bühne, wenn sie mit Goldhelm und blutigen Händen die Szene betritt. Im Verlauf geht jede Farbe verloren und alle tragen schwarze Hosen und weiße Hemden. Dennoch endet alles in Versöhnung, denn ein „lieto fino“ war in der Oper des 17. Jahrhunderts obligat.
Die Spielweise ist sehr körperlich und basiert auf „Physical Acting“, jenem auf Lecoq basierendem Bewegungstheater, das in kultureller Tradition der Commedia dell’Arte dem Körper den gleichen Wert beimisst wie dem Text. Mit einiger Präzision gelingt dies auch allen, wahrscheinlich in diesem Stil wenig erfahrenen Sänger*innen sehr probat. Sängerisch bleiben leider einige Wünsche offen und man bedauert, dass das unter Herheims Vorgänger Roland Geyer gegründete, sehr gute Junge Ensemble der Kammeroper aufgelöst wurde.
Das La Folia Barockorchester unter der musikalischen Leitung von Clemens Flick leistete gute Arbeit und unterstützte die Sänger*innen bestens. Ihnen kamen die vom Leading Team ergänzten, melodischen Madrigale von u.a. Luca Marenzino, Francesco Portinaro, Sigismondo d'India zu Gute. Dieser Einschnitt sollte wohl das rezitativisch geschriebene Werk auflockern. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde wurde mit diesem Stil experimentiert, um den dramatischen Fortgang der Handlung mittels verziertem, monodischen Gesang zu unterstützen. Opernwerke galten in Italien lange Zeit sogar eher als literarische, denn als musikalische Kunstwerke. Die Tanzmusiken sind in der überlieferten Partitur Caccinis nicht enthalten, doch das mag daran liegen, dass diese zumeist von anderen Komponisten verfasst wurden.
Insgesamt ein sehr guter Auftakt in der Kammeroper, trotz der Schwachstellen. Hoffentlich werden weitere Kleinode folgen.
„La Liberazione“, Premiere am 6. Oktober in der Kammeroper. Weitere Vorstellungen am 12., 14., 17., 19., 21. Oktober