Der Choreograf und Tänzer Trajal Harrell, bekannt durch sein der queeren Subkultur entlehntes Voguing, legt die kanadische Singer-Songwriterin Joni Mitchell als Eröffnungs-Act auf den Plattenteller. Sieben TänzerInnen tanzen sich mit sieben Geschichten, und ihrer gemeinsamen, hinein in die Herzen der ZuschauerInnen. Von Anfang an. Im zweiten Teil erklingt das 1975 aufgezeichnete Konzert des Jazz-Pianisten Keith Jarrett, das sich inzwischen zur meistverkauften Solo-Jazz-Piano-Platte aller Zeiten gemausert hat.
Trajal Harrell beginnt allein. Er empfängt das Publikum bereits beim Eintreten vorn auf der Bühne stehend. Er grüßt hierhin und dorthin, baut, nachdem schon alle sitzen, Spannung auf, eh's losgeht. Er lässt sich Zeit. Zu Joni Mitchells erstem Song „My Old Man“, einer Fantasie über häusliches Glück, wiegt er sich, betet und bittet, von Klagelauten begleitet. Er tanzt den Blues und hat den Saal gefangen.
Vier Songs von Joni Mitchell leiten die Performance ein. Klaviermusik und ihre unverkennbare, klare Stimme. Sie erzählt in ihren Liedern Geschichten. Zum zweiten Song „The Last Time I Saw Richard“ erscheint der zweite Tänzer, das Licht im Saal verlischt. Er wiegt sich im Sitzen. Richard versteckte sich hinter Flaschen in dunklen Cafes. Trajal weint leise auf seinem Hocker. „River“, der dritte Song, spricht wehmütig von einer verlorenen Liebe (der ihren zu Graham Nash). Drei bewegen sich sitzend in Wellen. Sie geben uns Zeit, das Lied anzuhören. An dessen Ende, erstmals sind alle sieben auf der Bühne, schwillt der Fluss gewaltig an.
Im vierten, dem letzten der eingespielten Songs, „Both sides, now“, ihrem vielleicht bekanntesten, 1500 Mal gecoverten Lied, geschrieben 1968 in einem Flugzeug, erzählt Joni Mitchell von den Wolken, der Liebe und dem Leben, die sie von beiden Seiten kennenlernte. Aber: „I really don't know live at all.“ Die TänzerInnen voguen wie bei einer Fashion-Show. Auf den Fußballen stolzieren sie auf und ab, zeigen sich im Pelzmantel, mit Statement-bedrucktem Sweatschirt, kräftig farbig gekleidet oder Männer in Strumpfhosen und Frauenkleidern. Sie präsentieren ihre identitätsgenerierenden Staffagen. Wenn sie sich setzen auf einen der sieben Klavierhocker, hier bindet Harrell die Songs, das Klavier-Konzert und den Tanz auch requisitorisch, sind sie traurig, depressiv, verunsichert. Und allein.
Die Fragilität der Stimme Joni Mitchells ist die der Verkleidungen der Menschen, dünne Schichten aus bunten Stoffen, habituellen Konstrukten und transparenten, weil unsichtbaren Überzeugungen und Glaubenssätzen. Sie dringt unter die Oberflächen, sie entkleidet die Menschen bis auf das, was sie ausmacht als Mensch. So wie Trajal Harrell, der, während Joni Mitchell singt, die bunten, wie auf dem Laufsteg, oder eher wohl auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten präsentierten Outfits seiner TänzerInnen als das kennzeichnet, was sie sind: Verhüllungen, Tarnungen, Selbst- und Fremd-Täuschungen.
Zum „Köln Concert“ – Harrell benutzt dessen ersten Teil – sind alle in luftiges Existenzialisten-Schwarz gekleidet. Sie brechen das uniforme Voguing auf wie sie ihre Hüllen abwarfen und lassen uns teilhaben an ihren ganz individuellen Geschichten. Mit Ehrlichkeit und ohne Scham. Der Alkoholiker schwankt, auch in seinen Stimmungen, der zugedröhnte Junky hält sich mühsam aufrecht, die gebrochene Frau tanzt trotzig ihre Selbstermächtigung, die kulturell Entwurzelte pendelt zwischen Afrika und westlicher Welt, der vom Leben Gebeutelte tanzt ohnmächtige Wut und Aggression. Wenn sie sich setzen, fallen sie zurück in ihre Grundbefindlichkeit, in Trauer und Einsamkeit.
Trajal Harrell hat in die Stimmungs- und Dynamik-Bögen des Klavier-Konzertes ineinander übergehende Soli, sieben seelische Offenbarungseide choreografiert. Jeder ist allein mit sich selbst, seiner Verzweiflung und seinen Mechanismen, dem zu entrinnen. So begegnen sie sich, erkennen sich im Anderen. Das Stück ist den Außenseitern, den von unseren hochzivilisierten Gesellschaften Verlassenen gewidmet. Es stellt die, die abseits, im Dunkeln, still mit ihrem Schicksal kämpfen, ins Licht. Am Ende voguen sie in einem großen Kreis um die Klavierhocker herum. Jeder tritt einmal heraus, um sich ganz vorn, uns allen zu zeigen. Stolz und schön.
Harrell und sein von ihm 2019 gegründetes Schauspielhaus Zürich Dance Ensemble zeigen sich als großartige TänzerInnen, ausdrucksstark nicht nur in ihrer Gestik. Was dem hier als Österreichische Erstaufführung gezeigten „The Köln Concert“ aber seine große emotionale Wirkung verleiht, sind die Warmherzigkeit und die Empathie des Choreografen, die in einem langen warmen Applaus ihr Echo fanden.
Trajal Harrell / Schauspielhaus Zürich Dance Ensemble mit „The Köln Concert“ am 5. August 2022 im Wiener Volkstheater im Rahmen von ImPulsTanz.