Sie wollte eigentlich Sängerin werden. Warum es dann doch anders kam und wer und was sie inspirierte und beeinflusste, beschreibt die in Japan geborene, seit 1991 in Wien lebende Künstlerin Akemi Takeya in ihrem hier uraufgeführten performativen Ritual „Schrei X8“. Heute ist sie eine fixe Größe und ihre fernöstlich-europäische Melange etwas Besonderes in der österreichischen Tanz- und Performance-Szene.
Im Foyer des Wiener Odeon empfängt die Zuschauer ein auf dem Boden stehender Monitor, der mit großen Lippen, die ihre kräftige Vielfarbigkeit ständig verändern, unverständlich leise redet. Andy Warhol lässt grüßen. In Schwarz gekleidet und sogar den Kopf mit einer großen schwarzen Maske verhüllt, wird sie auf die Bühne getragen und vorn abgesetzt. Eingespielter, japanisch gesprochener, hinten, auf der den weißen Boden himmelwärts verlängernden Leinwand übersetzter Text erzählt von Akemi in der dritten Person. Von ihrem ersten, nicht kommen wollenden postnatalen Schrei, von Sing-Übungen mit japanischen Pop-Songs, einer naturverbundenen Kindheit und einer Jugend, in der nur der Herzschlag und das Rauschen ihres Blutes in ihr war. Zitronen fallen von der Decke, wie von Gott gesendet, in eine Apparatur, die sie halbiert, presst und den Saft in einem leuchtenden Gefäß sammelt. Die Schalen speit die Maschine auf den Boden.
Mit gelber Augenmaske, wie nun zu Eigenleben erweckt, hockt sie, fauchend wie der Koyote, mit dem Joseph Beuys in „I like America and America likes Me“ zusammen lebte, auf der Bühne. Die überwiegend gelbe Stoff-Skulptur links vor dem Piano beginnt zu leben. Evandro Pedroni, 1987 in Brasilien geborener Tänzer, Choreograf und Performer, dirigiert sie mit schamanistisch-rituellen Gesten in eine die Oberflächen zerschneidende, nur selten klar beantwortete Befragung. Oder Selbstreflexion. Das dem Publikum wie eine Trophäe präsentierte Stoffhäschen am Ende seiner Plexiglas-Stange erzählt vom beginnenden Emanzipationsprozess.
Die Bass-Drum setzt ein. Der Dritte auf der Bühne, der Schlagzeuger Didi Kern mit seinen teils hochkomplexen, treibenden Rhythmen und die Komponistin und Produzentin Ursula Winterauer mit ihrem elektronischen Sound entwickeln gemeinsam eine akustische Ko-Performance erster Güte. Das selbstspielende Klavier wurde mit von Takeya komponierter und eingespielter Musik gefüttert.
Und dann das Visual Design von Maximilian Pramatarov und Yuwol June C.. Pramatarov lässt aus Pixel-Chaos, für ganz kurze Zeit wie aus dem Unbewussten aufsteigend eine Reihe von Gesichtern erkennbar werden. Gesichter von KünstlerInnen, die mit mit ihren Ansätzen, Intentionen, Methoden und Werken wesentliche inspiratorisch-energetische Quellen für Akemi Takeya waren und sind. June Chung steuerte dynamisch ineinander verschränkten japanisch-deutschen Text bei, Mathias Lenz die Bau-Objekte und Ruth Erharter die Komstüme.
Das Lichtdesign von Nicholas Langer kulminiert mit einem leuchtenden X auf dem Boden und jeweils 4 kreisenden, gelben Spots oben und unten. Der Monitor, nachdem ihn Pedroni mit Zitronen fütterte, leuchtet gelb. Über das X wischt vor und zurück ein blauer Lichtstreifen. In diesem Bild vereinigen sich, zentral für das Verständnis des Stückes, die spirituellen Bedeutungen der titelgebenden „X“ und „8“. Das „X“ verkörpert das Prinzip „Wie oben, so unten“, eine physisch wie metaphysisch hochkomplexe Metapher. Die „8“ deutet auf „das doppelte Glück“ des 2x4 ebenso wie auf die Unendlichkeit. Das gelbe Licht der Quelle von unendlicher Energie und ewigem Leben strahlt von der Bühne. Und das Piano, also Takeya, spielt, wie von göttlicher Hand berührt.
Akemi Takeya entwickelte das Konzept des „Lemonism“, in dem sie sich seit 2015 mit Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts, Aktion-, Kub-, Dada-, Japan- und anderen Ismen, auseinandersetzt. Die Zitrone gilt als Symbol der Fruchtbarkeit, der Reinheit und des ewigen Lebens. Gelb ist die dominante Farbe in „Schrei X8“. Der gelbe Schamane, die gelbe Augenmaske, der Zitronensaft. Ein gelber Fransen-Schal erweckt sie zu tänzerischem Leben. Ein mit dem Mund gehaltenes, ihre Nacktheit verhüllendes gelbes Tuch wird vor der Schluss-Szene zum Bild für eine Lebensenergie, die ihr Äußeres speist wie das, was dann zu ihrem Inneren wird, ihren physischen und ihren psychischen Körper nährt.
Und der Schrei? Variantenreich modifiziert vom Urschrei über verzweifeltes Weinen, kämpferisches „Ok! Go!“ bis zum erstickten Krächzen gegen Ende und mit „You never stop screaming.“ lädt uns Akemi Takeya ein auf eine spirituelle Ebene. Der Schrei als phyischer Ausdruck eines ständigen Geboren Werdens und Gebärens, des Wachstums und Vergehens, ist Repräsentant eines (die „8“ im Titel deutet's ebenso an wie der am Ende nur so genannte, vermeintliche Tod) unendlichen Prozesses, der alle Existenzweisen im physischen wie spirituellen Reich einschließt (das „X“) und durch Integration immerwährend gebärendes, beglückendes Wachstum ermöglicht. (Nicht erst) Mit „Schrei X8“, einer poetischen, berührenden Arbeit, voll von komplexer Metaphorik, stellt sich Akemi Takeya in die vorderste Reihe der österreichenden Tanz- und Performancekünstler.
Das sich vor dem Ende auf sie herabsenkende Kleid aus einem spiralförmig gewickelten Schlauch füllt sich mit Zitronen-Saft. Bis es überläuft, aus ihr herausrinnt, das Leben. Um dann wieder zurück zu fließen in das alles Leben nährende und von allem Leben genährte, leuchtende All-Eine. „She is falling down. She is broken in the end. The world called it Dying.“ Was für ein schönes Bild für den ewigen Kreislauf des Lebens. In einen aus bunten Inspirations-Fetzen genähten Umhang gehüllt verabschiedet sie sich.
Nach dem Ende der Performance, die Bühne ist menschenleer, und während viele schon den Saal verlassen, rollen auf der Video-Leinwand Briefe von Akemi Takeya an eine Reihe von KünstlerInnen nach oben. In ihnen beschreibt sie, was sie an diesen Persönlichkeiten beeindruckte und was als bleibender Input für ihr künstlerisches Leben blieb. Diese Briefe (an Yoko Ono, Laurie Anderson, Diamanda Calás, Nina Simone, Marina Abramović, Maria Callas, John Cage, Andy Warhol, Jean-Marie Gustave Le Clézio, Joseph Beuys, Yukio Mishina, Kinuko Nishina und John Lennon) ermöglichen einen faszinierenden und sehr persönlichen Einblick in das Denken und Fühlen der Künstlerin Akemi Takeya. Das Piano spielt noch eine Weile weiter ...
Akemi Takeya mit „Schrei X8“ am 21. Juli 2022 im Wiener Odeon im Rahmen von ImPulsTanz.