Zum Saisonabschluss feierte das Wiener Staatsballett und sein Publikum endlich wieder ein Fest der Freude. Es gab ein Wiedersehen mit den Stars des Ensembles. Roman Lazik, langjähriger Erster Solist (seit zwei Jahren „Senior Artist“), wurde mit lautstarken Akklamationen verabschiedet. Die Stimmung im Zuschauerraum war freudvoll, warmherzig, ja berauschend … und endete mit einem ernüchternden Post Scriptum.
Wie früher, bevor die Pandemie zuschlug, vor dem Wechsel der Direktion des Wiener Staatsballetts. Und doch auch ganz anders. Fügte der vorige Ballettchef Manuel Legris bei seinen Nurejew Galas kurze und kürzeste Nummern zu einem meist sehr langen Sammelsurium aneinander, so bot Martin Schläpfer ein gut getimtes Programm mit einer Mischung aus klassischen Gassenhauern, modernen Stücken und einen Einblick in den heutigen Flamenco. Warum er den Titel seines Vorgängers beibehielt, erschließt sich trotz einiger Querverweise zum Ausnahmetänzer Rudolf Nurejew eigentlich nicht. Außerdem verzichtete er auf die Videos, die in früheren Ausgaben interessante und unterhaltsame Einblicke in die Probenarbeit gaben.
Im Fokus: Hans van Manen
Ein Highlight war an diesem Abend sicher der Auftritt der Ballettakademie der Wiener Staatsoper in „Unisono“ von Hans van Manen. Im Gleichklang schreiten 50 jungen Tänzer*innen über die Bühne, mit Ports de bras und Kopfdrehungen. So scheinbar einfach und doch so komplex und wirkungsvoll. In den edlen, eleganten Defilés erfahren die Eleven und Elevinnen nicht nur die Qualitäten der klaren und reduzierten choreografischen Sprache van Manens. Das Werk aus dem Jahr 1978 (ursprünglich für Studierende am Königlichen Konservatorium Den Haag kreiert) ist ein State of the Art-Beispiel für Ensemblearbeit, der Grundlage des klassisch akademischen Tanzes. Die angespannte Konzentration vibrierte geradezu im Raum. „Unisonso“ steht auch für die Vorzüge, die der Tanz für junge Menschen bietet: Teamarbeit, Hingabe und exakte Ausführung, um nur einige zu nennen. Nach einem holprigen Start ist der neu aufgestellten Ballettakademie zu wünschen, dass dieser Weg, der auf ästhetische Bildung ebenso setzt wie auf tänzerische Erziehung, weitergegangen werden kann.
Hans van Manen hatte auch maßgeblichen Einfluss auf die Arbeit von Sol León und Paul Lightfoot, das bei der Gala gezeigte Ballett „Source of Inspiration“ zur Musik von Philip Glass ist sogar ein Geschenk an den Altmeister. Dabei wurden drei Soli, jeweils in einem eigenen Lichtkreis (Licht: Tom Bevoort) zu einem Trio verbunden, eindringlich getanzt von Ioanna Avraam, Edward Cooper und Masayu Kimoto.
Klassisches Erbe im Ballett und Flamenco
Letztgenannter war zusammen mit Ljudmila Konovalova das leading Paar in dem hinreißend getanzten „Allegro Brillante“ von George Balanchine, das die Gala eröffnete. Tschaikowskis drittes Klavierkonzert nimmt die Entwicklung der Populärmusik des 20. Jahrhunderts mit Anklängen an das spätere Musical genial vorweg, eine Entwicklung die Balanchine choreografisch quasi zeitenverkehrt widerspiegelt, in dem er die Danse d’école ins 20. Jahrhundert katapultiert hat. An diesem Abend manifestierte sich dieser Spirit besonders überzeugend, vor allem die Herren brachten mit ihren federnd leichten Sprüngen die schnelle, flüchtige Bewegungsqualität blendend zum Ausdruck.
Der Flamenco-Tänzer David Coria brachte die Kommunikation von Bailaor und Cantaor ins Spiel und betörte mit seinen flinken Füßen in den Zapateados. Auf der Gitarre wurde die Musik von Jesús Torres von José Luis Medina interpretiert. Die auf die traditionellen Flamenco-Elemente Gesang, Musik und Tanz beschränkte, sehr heutige Choreografie verzichtet, ebenso wie das zeitgenössische Ballett auf Farben, Show-Off und Pathos, und so auch auf die dem Flamenco zugeordnete Leidenschaft.
Die Tiefen zeitgenössischen Balletts
Weitere Gäste waren in „Lieder eines fahrenden Gesellen“ – im Originaltitel en français „Le chant du compagnon errant“ von Maurice Béjart zu sehen. Friedemann Vogel, der dafür nach Wien gereist war, ist ein eleganter Tänzer, allerdings konnte er sich – und noch weniger sein Partner Guillaume Côté – in die tieftraurige Welt der Mahler-Lieder einfinden und die subtilen Töne der Choreografie vermitteln. Die Bewegungen zum wunderbar differenzierten Gesang von André Schuen wirkten mechanisch und seelenlos.
Freilich stand auch ein Werk von Ballettchef Martin Schläpfer auf dem Programm. Es wählte die Ungarischen Tänze von Johannes Brahms. In Tanz Nr. 1 & 2 wird die alpenländische Groteske, die immer wieder in Schläpfers Arbeit aufblitzt, zum zentralen Thema. Aber auch hier folgt er nicht dem Gala-tauglichen musikalischen Bogen, die Brahms Komposition die unverwechselbare dunkle Färbung verleiht. Vielmehr tauchen hier und da tänzerische Assoziationen auf. Im Trio im Tanz Nr. 4 ( Marcos Menha, Claudine Schoch und Géraud Wielick) entspinnt sich ansatzweise ein Beziehungsgeflecht, doch nicht prägnant genug, um daraus ein Bewegungsnarrativ zu formen, das die Tänzer*innen in unverwechselbarer Erinnerung halten würde.
Champagnerlaune
Den größten Applaus an diesem Abend bekam Roman Lazik, der mit dieser Saison seine Tänzerkarriere beendet, davon 15 Jahre beim Wiener Staatsballett. Sein letzter Auftritt war nicht, wie für Erste Solisten meist üblich, in einer seiner besten Rollen (für mich wäre das Onegin), sondern mit einem eigens für die Gala mit Olga Esina einstudierten Pas de deux aus dem 2. Akt aus Rudolf Nurejews „Cendrillon“, das die beiden mit edler Eleganz tanzten.
Wie bereits zuvor Hyo-Jung Kang und Davide Dato mit dem Pas de deux aus „Le Corsaire“ grandiose Bravour verbreiteten, so setzte zum Abschluss Maria Yakovleva zur Charmeoffensive an, um mit Lourenço Ferreira als Partner im Grand Pas Classique aus „Paquita“ zu brillieren. Und versetzte das Publikum erneut in Jubellaune. Es sind diese bekannten Variationen, bei denen die Virtuosität im Mittelpunkt steht und zirkusähnliche Spannung erzeugt, die das Herzstück jeder Gala sind, in der die Ballerinas und Ballerinos ihre technischen und spielerischen Grenzen ausloten können. Dem feurigen Abschluss, bei dem auch das Orchester der Wiener Staatsoper unter der Leitung von Guillermo García Calvo ausgiebig gewürdigt wurde, folgte allerdings ein befremdlicher Epilog.
PS
Nach dem Schlussapplaus, noch während das Ensemble auf der Bühne stand, trat Martin Schläpfer hinter ein Rednerpult und sorgte mit einer nahezu 15-minütigen Lesung für Ernüchterung und Verwirrung. Was sollte dieser Oberlehrer-Auftritt? Wollte er sich dafür rechtfertigen, dass das Wiener Staatsballett auch einmal populäre Werke zeigt? Wollte er beweisen, dass er mit der Intellektualisierung der Party, die eine Gala immer auch ist, auf der Höhe der zeitgenössischen Tanzdiskussion ist? (Ist er übrigens nicht.) Wer ist sein Publikum, wenn er über Tanzgeschichte, stilistische Zuordnungen und das Kölner Tanzforum aus den 1970er Jahren fabuliert?
Jedenfalls erreichte er nicht jene Damen und Herren, die kurz zuvor im Feierstimmung waren. Sie verließen reihenweise den Saal, noch bevor der Herr Ballettdirektor den eigentlichen Sinn seines Auftritts wahrnehmen konnte, nämlich Avancements zu verkünden und Abschied von einigen Mitgliedern zu nehmen. Schließlich wurde die Corps-Tänzerin Natalya Butchko zur Halbsolistin befördert, Arne Vandervelde avancierte zum Solisten. Von den sieben scheidenden Tänzer*innen erhielten Roman Lazik, Adele Fiocchi sowie die langjährige Ballettmeisterin Alice Nascea Blumen. Die weiteren Abgänge Franciska Nagy, Isabella Lucia Severi, Andrey Kaydanovskiy (der als Choreograph dem Wiener Staatsballett erhalten bleibt), Alexander Kaden und Robert Weithas wurden nicht einmal genannt. Unerwähnt blieb auch, dass Rebecca Horner beim NDT und Maria Yakovleva beim Ungarischen Nationalballett ein Sabbatical verbringen werden. Das war besonders unverständlich, da Yakovleva sich zuvor sichtlich gerührt unter Tränen für ein Jahr von ihrem Wiener Publikum verabschiedet hat.
Nach zwei Jahren der eingeschränkten Auftritte und Besuche sollte man einfach feiern und dabei den Druck und die Belastungen dieser Zeit mildern dürfen. Denn ja, Kunst kann heilen, man muss sie nur lassen.
Wiener Staatsballett; "Nurejew Gala" am 26. Juni 2022 in der Wiener Staatsoper.